Bürgerschaftliches Engagement in Schöneberg

von Christiane Peter und Gabrielle Pfaff, Gedenktafelprojekt in der Apostel-Paulus-Straße 26

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Margot und Werner Vohs

Zwei Fotos weckten unsere Aufmerksamkeit. Alles begann vor mehr als zwei Jahren in der Ausstellung „Wir waren Nachbarn“ im Rathaus Schöneberg. Im Album der Familien Gadiel und Vohs zeigen Fotos den Balkon einer Wohnung in der Apostel-Paulus-Straße 26 in Berlin- Schöneberg, im Hintergrund das gegenüberliegende Polizeigebäude. Auf einem Foto sind zwei Frauen, auf einem anderen ein Mädchen und ein Junge zu sehen.

Die jetzigen Bewohner erkannten ihren Balkon wieder und stellten sich die Frage, ob noch andere jüdische Familien hier gewohnt hatten. Es folgten intensive Recherchen in Archiven durch eine Gruppe aus dem Haus. Das Ergebnis war die erschütternde Erkenntnis, dass hier einmal 28 jüdische Frauen, Männer und Kinder in der Weimarer Republik und der Nazizeit gelebt hatten. Zu manchen Personen konnten wir nur wenige Informationen finden, zu anderen überraschend viele, auch konnten Nachkommen ermittelt werden. Hilfreich waren außerdem die in aktuell veröffentlichten Suchanzeigen, auf die sich mehrere Nachfahren meldeten. Dass einige der früheren Bewohner überlebt hatten, weil sie flüchten konnten, erfuhren wir erst später. So war zum Beispiel das Ehepaar Richard und Johanna Landsberger mit seinen drei Kindern Kurt, Inge und Gerd im buchstäblich letzten Augenblick in die USA geflüchtet. Kurt Landsberger und seine Geschwister konnten wir ausfindig machen und erfuhren von ihnen Details zur Geschichte der gesamten Familie. Aus den Familien Gadiel und Vohs hatten die Kinder Margot und Hans Vohs überlebt, deren Fluchtgeschichte zur Grundlage des zuvor erwähnten Albums im Rathaus Schöneberg geworden war.

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Im Hausflur erinnert diese Gedenktafel

Was aber mit den Ergebnissen unserer Recherchen anfangen? Da geflüchteter Personen nicht mit Stolpersteinen gedacht werden kann – so die Vorschrift –, wir aber an alle erinnern wollten, ob sie nun ermordet wurden oder noch im letzten Augenblick der Deportation entkommen konnten, entschied sich die Eigentümergemeinschaft des Hauses für zwei Gedenktafeln. Die Tafel außen an der Hauswand erinnert allgemein an die in der Nazizeit verjagten oder ermordeten ehemaligen jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner, namentlich aufgelistet mit ihren Lebensdaten werden sie auf der Tafel innen im Hauseingang. Die Eigentümergemeinschaft des Hauses ermöglichte weitgehend die Finanzierung, der andere Teil wurde durch Spenden aufgebracht. Die Enthüllung der Tafeln sollte mit einer Feier verbunden werden, zu der Überlebende und Nachkommen eingeladen werden. Dass es nicht selbstverständlich war, dass sie dieser Einladung folgen würden, war uns bewusst.

Die Gedenktafel-Enthüllung fand am 27. April 2012 statt. Der Berliner Senat hatte es Kurt Landsberger und seiner Frau Irma ermöglicht, an dieser Zeremonie teilzunehmen. Begleitet wurden sie von ihren beiden Töchtern Faye und Lynn sowie von Stephen, einem Sohn von Inge Landsberger. Für die Familie Gadiel-Vohs waren, in Vertretung ihrer Mutter Margot Vohs, Irene Bernfeld mit den Töchtern Alexandra und Andrea sowie Ralph Bernfeld mit seiner Frau Sonia gekommen. Im Andenken an das Ehepaar Lindenberg nahm ein Berliner Neffe der Familie teil. Aus den Familien Gadiel, Hillel, Landsberger und Lindenberg waren weitere Angehörige aus aller Welt in Gedanken dabei.

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Die Gedenktafel am Haus Apostel-Paulus-Straße 26 in Berlin-Schöneberg

Unserer Einladung waren ca. 150 Gäste aus nah und fern gefolgt. Vier junge Jazzmusiker der Leo- Kestenberg-Musikschule im Bezirk Schöneberg hatten sich bereit erklärt, unsere Zeremonie musikalisch zu umrahmen.

Begrüßt wurden alle von Frau Dr. Sibyll Klotz, Stadträtin des Bezirks Tempelhof-Schöneberg für Gesundheit, Soziales, Stadtentwicklung. Sie hob die besondere Bedeutung des bürgerschaftlichen Engagements hervor, auch dass durch die intensive Beschäftigung mit dem Leben der Ermordeten und Vertriebenen diesen Menschen ihr Gesicht, ihre Individualität und damit ein Teil ihrer Würde zurückgegeben werde.

Anschließend wurden Kurzporträts der 28 Personen, zusammengefasst zu Familien, vorgetragen – umrahmt von Gedichten von Nelly Sachs und Hans-Magnus Enzensberger.

Endete unser Porträt der Familie Landsberger mit dem Alltag in der Apostel-Paulus-Straße 26 und dem Berlin der 1930er Jahre, so setzte Kurt Landsberger in seiner bewegenden Rede an bei der Flucht und dem keineswegs einfachen Neubeginn in den USA. Neben neuen Begegnungen gaben ihm seine Familie, die gemeinsamen Aktivitäten mit anderen Flüchtlingen und sein Engagement im New World Club und im AUFBAU ein Gefühl von Zusammenhalt.

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Am 27. April 2012 wurden die Gedenktafeln enthüllt

Irene Bernfeld stellte in ihrer berührenden Rede das Leben ihrer Mutter Margot Vohs in den Mittelpunkt. Margots abenteuerliche Flucht über Dänemark und Schweden endete 1948 mit ihrer Emigration nach Peru, wo sie mit Ernst Bernfeld eine Familie gründete. Doch Peru blieb ihr immer eine fremde Welt. Verstoßen von ihrer Heimat hat das Gefühl des Entwurzeltseins und der Zerrissenheit sie nie verlassen. Die erlebte Angst, die verlorene Kindheit und der Verlust ihrer engsten Familie haben sie unauslöschlich geprägt.

Nachdem die Gedenktafel außen von Margots Enkeltöchtern enthüllt worden war, bildeten das von Ralph Bernfeld hebräisch vorgetragene Kaddish und die nachfolgenden Schweigeminuten den Abschluss der feierlichen Zeremonie.

Mit unseren Gedenktafeln möchten wir erinnern und mahnen. Wir wissen, dass sie das psychische Leid und die körperliche Gewalt, die den Verfolgten angetan wurden, allenfalls erahnen lassen.

Gabrielle Pfaff
Apostel-Paulus-Straße 26
10823 Berlin
Tel.: 49 30 78713102
E-Mail: pfaff.g@berlin.de

Der Film zur Gedenktafel-Enthüllung
Das Museum Tempelhof-Schöneberg hat die gesamte Feier filmisch festgehalten. Der circa einstündige Film kann in der ständigen Ausstellung „Wir waren Nachbarn“ im Rathaus Schöneberg und im Archiv des Museums Schöneberg in der Hauptstraße angesehen werden.

Rathaus Schöneberg
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E-Mail: projekt.wirwarennachbarn@web.de

Archiv zur Geschichte von Tempelhof und Schöneberg
Hauptstraße 40/42
10827 Berlin
E-Mail: archiv@museentempelhof-schoeneberg.de