Wir und die Badewiese

_von Bern Brent_

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Die Badewiese am Sonntag

Ich flüchtete mit einem Kindertransport nach England, kam später nach Australien. Meine Mutter konnte 1939 ebenfalls nach London flüchten und lebte später ebenfalls in Australien. In den Jahren 1936/1938 hatten wir in Pichelsberg ein kleines Ruderboot, einen richtigen Äppelkahn, mit dem wir jeden Sonntag auf die Badewiese ruderten. Eines Jahres, es muss ´37 oder ´38 gewesen sein, hatten wir einen kleinen Wettbewerb: Meine Mutter, Lola Bernstein, mein Vater Otto und ich schrieben einen kleinen Aufsatz über die Badewiese. Folgenden Aufsatz schrieb meine Mutter:

Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag – das bedeutet Arbeit, viel Arbeit, Müdigkeit, hetzen, früh aufstehen, schnell, schnell zur Arbeit, schwitzen von früh bis spät, arbeiten, arbeiten, arbeiten, tippen, rechnen, übersetzen, Strümpfe stopfen, bügeln, waschen, einmachen – schnell, schnell…

Dann kommt der Sonnabend! Endlich!

Sonnabend ist ganz hellgelb. So hell wie Sonnenlicht, er bedeutet Verheißung, alles liegt in der Zukunft – im morgen! Denn morgen ist Sonntag! Sonnabend wird auch gearbeitet, schwer gearbeitet, erst im Büro, dann einkaufen, Vorbereitung für morgen. Aber dieselbe Arbeit ist plötzlich anders geworden, ganz anders, denn morgen ist ja Sonntag!

Sonnabend abends beim Einschlafen denkt man an den morgigen Ausflug. An Sonntag, an die Badewiese und diese Begriffe sind fast eins geworden, sie bedeuten plötzlich dasselbe: Sonne, Wasser, Ausruhen, Nichtstun, Schlafen.

Sonntag und Badewiese sind ganz rotgolden wie helles Feuer.

Morgens früh aufstehen ist plötzlich gar nicht schwer, die Morgenhetze des Sonntags ist noch so eine unangenehme Nachwehenstimmung der Woche. Dann ist auch dies überwunden, das Boot klar gemacht, die Fahrt wird angetreten.

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Meine Eltern genießen ihr Picknick

Das Ziel unserer Sehnsucht bleibt stets und immer – die Badewiese! Man liegt im Boot und sieht nur Himmel, Wasser, Sonne. Bis dann aus weiter Ferne die Ufer der Badewiese gesichtet werden! Jetzt beginnt erst der eigentliche Sonntag. Man setzt den Fuß auf das Ufer der Badewiese und der Zauber ist vollzogen. Berlin, die Arbeit, die Sorgen, Unannehmlichkeiten, die Angst, alles ist ausgelöscht, existiert nicht mehr! Man ist frei. Kein Klassen- oder Rassenhass! Die zufälligen Bewohner der Badewiese sind ausnahmslos nette friedliche Menschen. Alle Probleme sind ausgelöscht, alle Menschen sind hier gleich und haben die gleichen Rechte! Man hat nur ein Bestreben: Einander nicht in der Sonntagsfreude zu stören, die sich bei einigen in lautem Spielen, bei anderen in besinnlichem Umherliegen äußert. Alle sind grundehrlich, man kann sein gesamtes Vermögen liegen lassen – niemand würde es anrühren. Kein Papierfetzen! Die Badewiese ist so sauber, wie ein mit Staubsauger geputzter Teppich. Nie ist auf der Badewiese ein böses Wort gefallen, nie ein Streit entfacht oder gar eine Rauferei entstanden.

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Meine Mutter und ich gehen schwimmen

Bis zum späten Nachmittag lebt man in diesem Wunderland außerhalb Zeit und Raum. Dann sinkt mit der untergehenden Sonne langsam der Schatten auf die Badewiese und bringt die Vorahnung eines morgen mit sich. Hastig wird Abschied von der Badewiese genommen!

Der Sonntag ist zu Ende.


Bern Brent
Chiffre 111103