Ein Leben in drei Sprachen

_von Irene Katzenstein Schmied_

Drei Sprachen haben mein Leben gestaltet und mir drei verschiedene Wesens- und Lebensarten, vielleicht auch Denkarten, gegeben. Die am spätesten erworbene Sprache, die ich zwar sehr liebe, die aber in der Geographie meiner Psyche den geringsten Platz einnimmt, ist die Spanische. In den ersten vier Monaten des Jahres 1947 habe ich mich völlig in der mit Hügeln und Bergen durchzogenen chilenischen Landschaft dem „Castellano“ gewidmet. Die viele freie Zeit, die ich als achtzehnjährige „English Miss“ bei einer Familie chilenischer Großgrundbesitzer genoss, ermöglichte es mir, mich ganz dem Erlernen, Lesen und Sprechen der neuen Sprache zu widmen. Von da an konnte es nur bergauf gehen, selbst wenn ich zu Hause mit meinen Eltern weiterhin Deutsch sprach und ich in der Schule auf Englisch unterrichtete, also immer nur Englisch sprach. Am Ende habe ich sogar gelegentliche Theater- und Buchrezensionen für eine chilenische Zeitung geschrieben. Selbst heute, wenn ich mich nach weit über 50 Jahren in New York auf Spanisch unterhalte, kommt meine chilenische Persönlichkeit wieder hervor. Auch wenn ich nicht eine „sabia latina“ werden konnte, so haftet etwas von der lateinamerikanischen Sensibilität noch immer an mir. Aber so tief in mir verwurzelt wie zum Beispiel die englische Sprache ist „El Castellano“ nicht.

Schließlich ist Englisch die Sprache mit der ich während der Kriegsjahre in England aufwuchs. Es ist die Sprache, in deren Wasser ich mich am besten spiegele. Sieben Jahre englische „Boardingschool“ und das Leben mit einer schottischen Akademikerfamilie im Süden von England haben dazu beigetragen, wie auch das spätere Studium an amerikanischen Universitäten. Ich kann mich in keiner anderen Sprache so gut in Wort und Schrift ausdrücken. Aber gerade meine Schreibfähigkeit, beinah als Schreibwahn zu bezeichnen, verbirgt die Schwierigkeit, meine wahren Gefühle auszudrücken. Trotzdem ist für mich die englische Sprache so mit meinem Leben verbunden, dass wenn ich eines Morgens ohne Englisch aufwachen würde, ich an meiner Existenz zweifeln müsste. Aber würde es wirklich so sein? Vielleicht käme dann ein Erwachen in die deutsche Sprache, so wie ich sie wohl als Kind – mit Ach und Krach und mit wahrem Gefühl – gesprochen habe.

Mein Verhältnis zu meiner eigentlichen Muttersprache, dem Deutschen, ist am kompliziertesten. Ich bin auf sehr englische Weise aufgewachsen, wollte damals alles Deutsche mir vom Leib halten. Die politischen und sozialen Bedrängnisse des Krieges und die psychischen Bedürfnisse eines Flüchtlingskindes waren dafür verantwortlich. Doch diese Verwandlung war wohl eher äußerlich als innerlich.

Ich erinnere mich, wie ich von dem alten, längst überwundenen Heimweh ergriffen wurde, als ich – im Sommer 1942 oder 43 – einmal wieder bei meiner englischen Familie eintraf. Zuvor hatte ich meine Mutter besucht. Sie arbeitete als Haushaltsangestellte und konnte mich immer nur für geringe Zeit bei sich haben. Plötzlich kamen mir keine englischen Worte mehr über die Lippen. Ich begann zu schluchzen, ein für meine Umgebung unerklärliches Verhalten. Am nächsten Tag, während den Vorbereitungen auf das wöchentliche Picknick, erschien mir der gestrige Kummer ganz unverständlich. Ich war zurück in meiner englischen Welt und wollte von keinem anderen Leben wissen, nicht von meiner Mutter in ihrer fremden Küche und nicht von meinem Vater, der inzwischen in Chile gelandet war, und auch nichts von der deutschen Sprache.

Vielleicht war es so, dass die beiden sprachlichen Ströme, die wirkliche Muttersprache und die adoptierte Muttersprache, sich immer durchkreuzt haben. Trotzdem hielt die innere Spaltung für lange Zeit an. Manchmal war ich es, die der deutschen Sprache den Rücken kehrte. War ich nicht jetzt genau so englisch wie mein Akzent? War ich nicht die echte „Chilena“ geworden, für die man mich oft hielt. Andererseits kam es mir in dunkleren Stunden vor, als ob ich das Recht verloren hatte Deutsch zu sprechen, dass es von mir erwartete wurde, mich meiner Muttersprache zu entledigen im Hinblick auf das was, meine Familie in Deutschland verloren hatte. Schließlich hatte man uns ausgewiesen, entrechtet.

Während meiner fünfjährigen Psychotherapie spitzte sich dieser innere Konflikt am meisten zu. Ich hatte gerade mein Abendstudium an der Columbia Universität begonnen. Tagsüber arbeitete ich schon seit Jahren als Übersetzerin für Spanisch, Französisch und Deutsch. Ichfürchtete, sicher unbegründet, dass meine Deutschkenntnisse, vielleicht auch mein deutsch-jüdischer Hintergrund die Beziehung zu meinem Therapeuten und die Konzentration, die ich für mein Studium brauchte, untergraben würden. Ich vermied jede Berührung mit der deutschen Sprache, hielt mich im Büro fern von Übersetzungen aus dem Deutschen, an denen ich vorher mit viel Fleiß und Freude gearbeitet hatte. Es dünkte mir dann auf verfolgerische Weise, dass man mir diese Übersetzungen absichtlich weggenommen hatte. So bringt das Gehirn, unter zu viel Stress, seine eigenen Dämonen hervor.

Jetzt, so viel später im Leben, schreibe ich des Öfteren auf Deutsch, seien es Erinnerungen, kurze Aufsätze und vor allem Briefe. Die erneute Verbindung, die neuen oder erneuten Freundschaften in meiner Heimatstadt Berlin, haben auch dazu beigetragen. Das Salto Mortale vom ersten englischen Entwurf ins Deutsche ist immer noch ein Sprung ins unverlässliche Wasser. Aber wenn der deutsche Text einmal so artig vor mir liegt, dann wird das Geschriebene lebendig. Das Unterbewusstsein gibt Gedanken und Gefühle preis, letztere wahrscheinlich aus der Kindheit stammend, die sonst unerreichbar sind.

Manchmal kann ich jetzt ohne vorherigen schriftlichen englischen Entwurf deutsch schreiben. Die deutschen Worte entsprechen dann den englischen und meiner schriftstellerischen Stimme, die ich in den letzten zehn Jahren gefunden habe. Ich habe gelernt, besser zu schreiben, ganz gleich in welcher Sprache, und löse mich von alten Ängsten und Blockierungen, die meinem Deutsch anhafteten. Diese Stimme erlaubt mir, in die tiefen Wasser des kreativen Schreibens gleich in welcher Sprache einzutauchen. An diesem Platz steht mir alles zur Verfügung; an diesem Platz offenbart sich mir das Leben in seiner Bedeutung.


Irene Katzenstein Schmied
Chiffre 210103