Die Rückkehr der vertriebenen Wissenschaft

Ein Abschluss des Promotionsverfahrens nach 65 Jahren

_von Dr. Carina Baganz, Zentrum für Antisemitismusforschung, Technische Universität Berlin_

Promotion

Dimitri Stein und Gattin nach Übergabe der Doktorurkunde am 12. November 2008 in Berlin

Dimitri Stein hat nach 65 Jahren in Berlin abgeschlossen, was ihm solange verwehrt blieb: sein Promotionsverfahren. Ein Blick zurück: Am 30. Januar 1933 begann mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte. Die „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ setzte die Grundrechte außer Kraft, das „Ermächtigungsgesetz“ hob das parlamentarische System auf, die Gleichschaltungsgesetze beraubten Länder und Kommunen jeder Eigenständigkeit, und mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ entledigten sich die Nationalsozialisten der politisch und „rassisch“ nicht genehmen Beamten.

Der Prozess der politischen und ideologischen Gleichschaltung erfasste auch die deutschen Universitäten und Hochschulen. Ein großer Teil der Studierenden und Professoren war schon während der Weimarer Republik von antidemokratischem Denken geprägt, und nicht wenige hatten sich bereits vor 1933 der nationalsozialistischen Bewegung angeschlossen. So mussten sie nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten nicht erst gezwungen werden, die Universitäten umzustrukturieren, Forschung und Lehre der NS-„Weltanschauung“ anzupassen und diejenigen auszugrenzen, die ihnen ein Dorn im Auge waren.

Der nationalsozialistische Gedanke hielt auch in der Technischen Hochschule Berlin (heute TU Berlin) Einzug. Jüdische oder kritische Wissenschaftler wurden diskriminiert oder von der Hochschule vertrieben. Zu ihnen zählten beispielsweise der Nobelpreisträger Gustav Hertz und Georg Schlesinger, der Wegbereiter der modernen Produktionswissenschaften und zusammen mit Albert Einstein der Mitbegründer des Technion Haifa. Die Namen einiger Professoren, die aufgrund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ aus dem Wissenschaftsbetrieb der TU Berlin ausgeschlossen wurden, sind bekannt. Anders verhält es sich mit den Wissenschaftlern, denen der Doktorgrad entzogen oder verweigert wurde; ihre Namen und Geschichten liegen weitestgehend im Dunkeln. Die meisten von ihnen waren jüdischer Herkunft und emigrierten nach 1933 ins Ausland. Einer von ihnen ist Dimitri Stein, der jedoch im November 2008 an seine ehemalige Universität zurückkehrte, um zu beenden, was er 1943 begonnen hatte.

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Die Nordfassade des Hauptgebäudes der Technischen Hochschule Berlin (Aufnahme um 1900). Im Zweiten Weltkrieg wurde die Fassade stark beschädigt

Der 1920 geborene Dimitri Stein schloss 1942 an der Fakultät für Maschinenwesen der damaligen Technischen Hochschule Berlin sein Studium der Elektrotechnik ab. Auf der Grundlage seiner Diplomarbeit schrieb er seine Dissertation und reichte diese beim Diplomprüfungsamt ein. Im Dezember 1943 teilte ihm der „Gaudozentenführer“ jedoch mit, dass er gegen die Zulassung zur Promotion Einspruch erhoben habe, da Stein, wie es im NS-Jargon hieß, „Mischling 1. Grades“ sei. Im Frühjahr 1944 musste Stein vor der Gestapo untertauchen und überlebte nicht zuletzt durch die Hilfe des Betreuers seiner wissenschaftlichen Arbeit, der ihn bis zum Kriegsende versteckte. 1947 wanderte Stein in die USA aus und begann dort eine Karriere als Universitätsprofessor. Seine Nachfrage in den 1950er Jahren an der TU Berlin nach der Wiederaufnahme seines Promotionsverfahrens wurde abgelehnt. Einen weiteren Versuch unternahm er nicht.

Anfang 2008 erfuhr die Fakultät IV Elektrotechnik und Informatik der TU Berlin durch Freunde von Dimitri Stein von dieser Geschichte, und im November 2008 wurde ihm das ermöglicht, was ihm 65 Jahre verwehrt blieb: der Abschluss seines Promotionsverfahrens.

Dieses Ereignis nimmt die TU Berlin nun zum Anlass, sich der eigenen Geschichte genauer zu widmen. Im Rahmen eines Forschungsprojektes am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin sollen nun die Jahre zwischen 1933 und 1945 an der Technischen Hochschule Berlin aufgearbeitet werden. Ziel ist es, nach weiteren Wissenschaftlern zu suchen, die aus „rassischen“ oder politischen Gründen von der Technischen Hochschule Berlin vertrieben wurden, denen der Doktorgrad verweigert oder entzogen wurde. Auch nach möglichen Helfern wie im Falle Stein soll geforscht werden, und auch der Umgang der TU Berlin nach 1945 mit diesem Thema ist Gegenstand des Interesses. Vielleicht bleibt Dimitri Stein nicht der einzige, dessen Verfahren nach so langer Zeit wieder aufgenommen wird. Andere wiederum könnten posthum geehrt werden, um ihnen die Würde und Anerkennung zuteil werden zu lassen, die ihnen während des Nationalsozialismus verwehrt blieb.

Noch besteht eine geringe Chance, den einen oder anderen, dem dieses Unrecht widerfahren ist, ausfindig zu machen. Nicht zuletzt wird damit auch deutlich, dass sich die TU Berlin der Geschichte stellt und von diesem Akt politischer Willkür während des Nationalsozialismus distanziert.

Für das Forschungsprojekt „Vertriebene Wissenschaft. Doktorgradentziehung und Behinderung von Promotionen an der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg 1933 bis 1945“ bittet das Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin um Ihre Mithilfe. Jüdische oder kritische Wissenschaftler wurden in der Zeit von 1933 bis 1945 diskriminiert und von der Hochschule vertrieben, Promotionen wurden verhindert, Doktorgrade entzogen. Von einigen Wissenschaftlern weiß man bereits, doch das sind längst nicht alle. Ziel ist es nun, die Namen aller betroffenen Wissenschaftler ans Licht zu holen. Da der überwiegende Teil des Hochschularchivs im Krieg verloren ging, ist die Leiterin des Projektes, Dr. Carina Baganz, auf Ihre Mithilfe angewiesen. Bitte melden Sie sich, wenn Sie, Ihre Angehörigen oder Bekannten betroffen waren. Jeder noch so kleine Hinweis kann hilfreich sein.


Dr. Carina Baganz
Zentrum für Antisemitismusforschung
Technische Universität Berlin
Ernst-Reuter-Platz 7
10587 Berlin
Tel.: 49 30 31479874
E-Mail: carina_baganz@yahoo.de