Das Jüdische Waisenhaus in Berlin-Pankow

Ort der Zuflucht, Geborgenheit und Vertreibung

_von Prof. Dr. Peter-Alexis Albrecht, Dr. Walter und Margarete Cajewitz-Stiftung_

Waisenhaus

Das Haus gestern und heute. Die Fotos wurden 1916 und 2008 aufgenommen.

Am 23. April 1999 schlossen der Staat Israel und die Dr. Walter und Margarete Cajewitz-Stiftung einen Kaufvertrag, wonach die Stiftung das ehemalige Jüdische Waisenhaus erwarb. Die Stiftung war von diesem Tag an Eigentümerin eines Denkmals im ständigen Verfall. Binnen zweier Jahre konnte die Cajewitz-Stiftung das Gebäude restaurieren. Die Stiftung Deutsche Klassenlotterie ermöglichte die Wiederherstellung des alten Betsaals zu einem würdigen Ort der Begegnung. Das Haus erstrahlt heute wieder im ursprünglichen schlichten Glanz des bekannten Baumeisters der Jüdischen Gemeinde, Alexander Beer, der Opfer des Holocaust wurde. Es ist sein einzig erhaltenes Werk in Berlin.

Das Besondere dieses Pankower Bausolitärs erschließt sich aber erst in der Berücksichtigung der ursprünglichen Bewohner. Von 1882 bis 1940 beherbergte das Haus jüdische Waisen und jüdische Schüler, deren Mehrheit den Holocaust nicht überlebte. Nur wenige hatten das Glück, mittels rettender Kindertransporte nach England und in andere Länder außerhalb des Zugriffs Nazi-Deutschlands entkommen zu können. Einige von ihnen konnten wir mit Hilfe des im Jahre 2000 gegründeten Pankower Vereins der Förderer und Freunde des ehemaligen Jüdischen Waisenhauses zur Feier der Wiedereröffnung (die „Zöglinge“ nennen es Reunion) im Mai 2001 in aller Welt ausfindig machen und nach Berlin bitten. Von diesen einmaligen Begegnungen erzählen die ersten Beiträge im Buch „Verstörte Kindheiten“, das die Geschichte des Bauwerks und seiner Bewohner zum Gegenstand hat. (Albrecht/Brent/Lammel, Berliner Wissenschafts-Verlag, 2008)

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Zöglinge auf der Eingangstreppe im Mai 2001

Die Spuren der früheren Bewohner des Hauses prägen den Inneneindruck auch heute nachdrücklich. Eine behutsame Rekonstruktion legte nicht nur die Schichten der baulichen Auskleidung frei. Die bauliche Wiederherstellung offenbart auch das Schicksal der Kinder, die hier Zuflucht suchten. Wenn der Restaurator unter hastig übertünchten Deckengemälden eines früheren Betsaals Symbole jüdischen Glaubens freilegt, wird zugleich die Geschichte einer Vertreibung erzählt. Einer Vertreibung von Kindern, denen das Waisenhaus mit seinen schweren Mauern als besonders behütender Ort erscheinen musste. Die ehemaligen Zöglinge berichten über eine „Verstörte Kindheit“, in der sie gezwungen waren, den Ort zu verlassen, der ihnen Heimat war. Und in der sie mit ansehen mussten, wie ihre verbliebenen Freunde und Lehrer im Holocaust ermordet wurden. So wird aus der Chronik eines Bauwerks die bewegende Lebensgeschichte seiner Bewohner.

Vor diesem Hintergrund ist es nahezu unbegreiflich, dass 2001 anlässlich der Einweihung des rekonstruierten Hauses dreißig ehemalige Waisen und deren Angehörige aus aller Welt der Einladung des Vereins der Förderer und Freunde des ehemaligen Jüdischen Waisenhauses folgten und zum größten Teil erstmals seit vielen Jahrzehnten wieder den Boden ihrer einstigen Zufluchts-, aber auch Vertreibungsstätte betraten.

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Christa Wolf dankt den Teilnehmern

Der Versuch einer Wiederannäherung im Dialog wurde aufgezeichnet und von Christa Wolf und Inge Lammel begleitet. Diese Dokumentation ist eine tastende Annäherung an verschüttete Vergangenheiten und an aus dem Blick geratene Biografien der Geretteten, die in diesem Buch Wort wörtlich vermitteln werden. Für uns alle, die an diesen Begegnungen teilnehmen durften, war dies eine atemberaubende, unvergessliche Begegnung mit dem Unfassbaren. Die Bilder, die uns bleiben, vermitteln einen Eindruck von dieser einmaligen Atmosphäre, die in den ersten Mai-Tagen des Jahres 2001 herrschte.

Heute ist dieses denkwürdige Haus zu einer Begegnungsstätte für Jung und Alt geworden: Es beherbergt die Stadtbezirksbibliothek von Pankow und eine Schule. Mit der Zeit können sich die Nutzungen des Waisenhauses ändern. Eines wird sich nicht ändern: Das Waisenhaus ist angesichts seiner Geschichte eine öffentliche, würdige Erinnerungsstätte und Raum für tolerante Kommunikation zwischen den Generationen geworden. Das ist vor allem den Begegnungen mit den ehemaligen Zöglingen zu danken. Sie haben sich uns mit großen Mühen, zum Teil mit großen Selbstzweifeln angenähert und in einer Art geöffnet, die zutiefst beschämt, auch beglückt und vor allem Hoffnung für gemeinsame Bemühungen um eine tragende Zukunft macht. Dass dies nach all dem Schrecklichen möglich ist, ist das eigentlich Unfassbare.

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Leslie Baruch Brent (2. von links) präsentiert im Betsaal seine Lebensgeschichte

Am 11. September 2009 hat Professor Dr. Leslie Baruch Brent, ein ehemaliger Zögling, das in der Präsentation seiner Lebensbiografie „Ein Sonntagskind? Vom Jüdischen Waisenhaus zum weltbekannten Immunologen“ mit anderen Worten zum Ausdruck gebracht. Seine Biographie ist nicht allein die Lebensgeschichte eines höchst komplexen Lebens. Es ist die nachweisbare Einordnung biografischer Ereignisse in das Schicksal eines Jahrhunderts, das alle Zeitgenossen an den Abgrund ihrer Existenz geführt hat. Dass Leslie Baruch Brent sich auf eine Mahnung nicht beschränkt, sondern wachsam und mutig die Abgründe einer ungewissen Zukunft seherisch reklamiert, macht dieses Werk bedeutsamer als viele Biografien wichtiger Zeitgenossen.

Das ehemalige jüdische Waisenhaus in Pankow wird dauerhaft über das Schicksal der 579 deportierten und ermordeten Pankower Juden Zeugnis darüber ablegen, wohin eine unkontrollierte und entfesselte Politik führen kann. Wir dürfen es nicht beim Gedenken belassen. Vielmehr müssen uns die Toten mahnen, dass auch eine freiheitliche Gesellschaft nicht von selbst vor dem Abgleiten in unfassbare Abgründe geschützt ist. Leslie Baruch Brent hat mit „Sunday’s Child?“ ein Fundament für diese Erkenntnis gesetzt.


Dr. Walter und Margarete Cajewitz-Stiftung
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