Ein Wunder ist mir geschehen

Wir wurden zu gleicher Zeit geboren. Wir trafen uns als Babys und lächelten einander zu. Wir wuchsen gemeinsam auf und kamen zusammen in den Kindergarten. Später kamen wir zusammen in die Schule – in dieselbe Klasse, saßen nebeneinander auf der Schulbank. Wir waren zusammen – immer zusammen.

Wir waren seelenverwandte Schwestern, verbunden in den jungen Jahren unserer Kindheit. Wir waren ein Herz und eine Seele für immer und ewig – so dachten wir. Ilse – die Deutsche Christin. Hanni – die in Deutschland geborene Jüdin. In Berlin in den frühen zwanziger Jahren des 20. Jahrhundert. Dann – plötzlich – wurden wir eines Tages getrennt. Hanni wanderte mit ihren Eltern aus nach Palästina, Ilse mit ihren deutschen Eltern blieb in Berlin. Es war das Jahr 1934 und wir waren beide 10 Jahre alt. Wir haben nicht geweint. Wir haben gar nicht begriffen. Wir waren doch so verbunden und werden das immer bleiben! Morgen werden wir sicherlich wieder zusammen sein – zusammen spielen, uns Geheimnisse anvertrauen. Hand in Hand werden wir dem Leben entgegen gehen.

Die Jahre vergingen. Wir wuchsen auf und wurden erwachsen. Aber zwischen Ilse und mir – kein Wort, keine Verbindung. Und sie immer in meinem Herzen, in mir und meinen Gedanken und ich sehnte mich nach ihr! Im Jahre 1976 kam ich erstmals als Touristin nach Berlin auf Einladung der Stadtverwaltung. Ich habe meine Kindheit gesucht, aber mehr als alles andere – ich habe sie gesucht, meine Ilse! Ich fand unser und ihr Haus oder besser wo diese Häuser einmal gestanden hatten. Ich fragte Nachbarn nach ihr, ich suchte, wo ich nur konnte, aber keiner hatte von ihr gehört, keiner konnte mir Auskunft geben. Wie wohl ihr Name heute war und – welch schrecklicher Gedanke – ob sie vielleicht den Krieg nicht überlebt hatte?

All diese Gedanken quälten mich und innerlich rief ich: Ilse – wo bist Du? Was ist aus Dir geworden? Denkst Du noch an mich – Deine Freundin – Deine Schwester? Du – die deutsche Christin, ich die israelische Jüdin! Vom Schicksal getrennt! So fuhr ich zurück in meine Heimat, ohne etwas erreicht zu haben, und das Gefühl des Verlustes war umso größer. Ich gab aber keine Ruhe. Ich forschte von hier aus – mit Briefen, Telefonen – alles was möglich war, um nach all dieser Zeit einen Menschen ausfindig zu machen. So vergingen die Jahre. Nie wieder hatte ich eine Freundin. Mein Herz war in Freundschaft an Ilse vergeben.

Und dann eines Tages… ist das Wunder geschehen! Ich habe sie gefunden! Wir waren beide 70 Jahre alt!

Erst haben wir vorsichtig korrespondiert. Dann eines Tages, trafen wir uns in Fleisch und Blut! Und fielen uns gegenseitig in die Arme! Die Zeit stand still. Wir waren wieder die zwei kleinen Mädchen – die 10-jährigen! Alles war zwischen uns so wie früher. Als ob keine Zeit vergangen war. Wir waren dieselben Freundinnen, fühlten dieselbe Liebe und Zuneigung zueinander – und erzählten – 60 Jahre unserer Erlebnisse! Von da an gingen wir wieder – Hand in Hand – trotz der meilenweiten Entfernung zwischen Deutschland und Israel, vier Flugstunden, spät aber nicht zu spät! Das war das größte Wunder meines Lebens!


Hanni Hirsch
Chiffre 108103