Mein Vater war Ingenieur und wurde nach wenigen Jahren ein tüchtiger, erfolgreicher Unternehmer. Nachdem er unser erstes, sehr kleines Häuschen in der Leibnizstraße in ein 5-stöckiges Haus mit Keller und einem Fabrikgebäude dahinter verwandelt hatte, entschloss er sich, eine Hochgarage zu errichten. Zu dieser Zeit gab es noch eine einzige Villa auf der Kantstraße, mit einem wunderbaren Garten mit Fliederund Jasminbüschen und Hecken, und daneben stand die „Villa“, die im Jahre 1895 erbaut worden war.
Dieses Grundstück wurde im Jahre 1930 die große „Kant Garage“, ein fünfstöckiger ganz moderner Bau, mit einer Rampe für die Automobile, die durch die Rampe ohne Hilfe in ihren eigenen verschließbaren Parkplatz auf jeder Etage der Garage ihre sichere Unterkunft finden konnten. Mein Bruder und ich wurden täglich Zeugen einer Bauaktivität, die mehr als ein Jahr dauerte. Wir bewunderten das Modell der Rampe, das die Architekten produziert hatten. Die Eröffnung dieses architektonisch sehr interessanten Baus wurde in den Tageszeitungen und architektonischen Zeitungsbesprechungen gerühmt. Diese Garage steht noch heute – ohne Inschrift – ein Denkmal für meinen Vater, Louis Serlin.
Interessant, wie das ganze Gebäude, sind die vordere und die hintere Fassade, – besonders die hintere, die vollkommen aus Glas besteht. Mein Vater war zu einem großen Teil für viele der architektonischen Ideen verantwortlich. Die Villa blieb unangerührt stehen und meine Familie bewohnte den Oberstock. Alles erschien, als ob wir fest, für immer, angesiedelt waren. Aber, wie alle von uns deutschen Juden sich erinnern, dies würde nicht der Fall sein. Wie, als ob es gestern gewesen wäre, erinnere ich mich an den Abend, 1933, an dem Tausende von Braunhemden in Reih und Glied vorbei marschierten, mit Fackeln und dem Gebrüll der Sänger des „Horst-Wessel-Lieds“: „Wenn’s Judenblut vom Messer spritzt, dann geht’s noch mal so gut!“
1938. Die Hochgarage wird an den Graf von Schulenburg, zur Zeit VW Direktor, „verkauft“ – für ein Schriftstück – nicht für Geld. So ist’s zu dieser Zeit in Deutschland und ein Teil meiner Familie, meine Mutter, mein Vater, mein Bruder und ich entrinnen dem Todschlag.
Meine Großmutter bleibt zurück und wird nach Theresienstadt abgeführt, wo sie 1942 „stirbt“. Unsere Bemühungen um weitere Informationen sind nicht erfolgreich; erst im Jahre 2000 habe ich endlich in der jüdischen Bibliothek in Berlin, in der Fasanenstraße, herausgefunden, wann sie „starb“. Es war unmöglich, selbst für meinen Bruder, der in der amerikanischen Armee, nicht weit von Theresienstadt entfernt, diente, herauszufinden, was mit ihr geschehen war. Das einzige, was wir bis zum heutigen Tage haben, ist ihr kurzer Brief an uns, der uns von ihrer halb-jüdischen Nichte nach dem Krieg gesandt wurde, mit dem Inhalt, dass sie im Juli 1942 „abgeholt“ wird und uns allen ihre Liebe schickt. Sie wusste wohl, was das „Abholen“ bedeutete, obgleich sie es nicht ausspricht.
Als mein Vater kurz nach dem Ende des Weltkrieges nach Berlin zurückkam, stand die Garage noch, obgleich alles Glas der beiden Fassaden zerstört worden war. Es erschien wie ein Wunder, dass das Gebäude selbst noch stand. Die Villa war fast vollständig zerstört. Es gelang ihm nach größten Bemühungen in fünf Jahren, seinen Besitz wiedererstattet zu bekommen und weitere Jahre, alles Zerstörte wieder aufzubauen. Wie ich bereits erwähnte, heute steht die Kant Garage, und wird vollkommen benutzt.
Es ist das Jahr 2000. Ich bin in Berlin, um einige Dinge zu regeln, die mit mir, als Halb-Besitzerin eines uns „wiedergegebenen“ Hauses zu tun haben. Dies erfordert die Hilfe eines Rechtsanwalts in der Friedrichstraße. Ich, als alte Berlinerin, weiß genau, wie ich schnell dorthin komme. Stadtbahn vom Savignyplatz zur Friedrichstraße! Und – wie in alten Tagen – noch immer derselbe Zug, vielleicht wirklich einer derjenigen, den ich damals im Jahre ’35 so oft in die Friedrichstraße nahm, um zu der „Lehranstalt“ (für die Wissenschaft des Judentums) zu fahren, wo ich bis 1938 auch studiert habe. Auf der anderen Seite in der Bahn sitzt ein Mann, ungefähr in meinem Alter, und so denke ich vor mich hin: „wäre ich in Berlin geblieben und wäre dann, wie heute, zur Friedrichstraße gefahren, hätte ich vielleicht solch einen Menschen, wie er dort sitzt, sogar gekannt!“
Ich komme am Bahnhof an und der Mann steigt ebenfalls aus. Ich finde das Haus des Rechtsanwalts schnell und muss warten. Zu meinem großen Erstaunen kommt jemand in das Büro: derselbe Mann! Vom Fenster des Büros kann ich die Kuppeln des Oranienburgerstraße Tempels sehen. Ich stelle mich ans Fenster – und er kommt auch ans Fenster. Bald beginnen wir miteinander zu sprechen. Er ist ebenfalls, genau wie ich, jüdisch, lebt jetzt in England, und wir beide teilen die große Freude, den Tempel mit der frischen goldenen Kuppel zu sehen. Wir teilen unsere Vergangenheit und jetzt unsere Gegenwart! Wie unglaublich und unwahrscheinlich ein solches Erlebnis zu haben! Als wir beide unsere Geschäfte erledigt haben, geben wir einander unsere Adressen, er in England (er wird bald in die USA zu Besuch kommen) und ich in New York. „Auf baldiges Wiedersehen!“ Aber, was die Wirklichkeit ist: Wir haben einander nie wiedergesehen!