Erzwungener Freitod

_von Anna Fischer, Stiftung Neue
Synagoge Berlin – Centrum Judaicum_

Ilse Vormerker

Ilse Vormerker 1932 in Heringsdorf

In einem von der Europäischen Union finanzierten Projekt hat die Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum die Möglichkeit, nach „Berliner Spuren und Zeugnisse von in den Freitod getriebener Jüdinnen und Juden 1938–1945“ zu recherchieren. Es ist ein bislang kaum beachtetes, düsteres Kapitel deutscher Geschichte. Zwar wird sich vieles nicht erhellen lassen, aber sicherlich mehr als man zunächst annimmt.
Nach vorläufigem Wissenstand nahmen sich in der Zeit des Nationalsozialismus – eingegrenzt auf die Jahre 1938–1945 – in Berlin mehr als 1600 jüdische Menschen das Leben. Diese Zahl bezieht sich auf die in Weißensee Bestatteten. Wir wissen natürlich, dass aus vielerlei Gründen, einige, die Selbstmord verübten, auch auf anderen Friedhöfen der Stadt bestattet wurden. Doch die Dunkelziffer liegt entschieden höher; vermutlich wurden damals wesentlich mehr in Berlin lebende Juden in den Freitod getrieben als in den Karteien und Archiven zu finden ist.
Wie viele von ihnen Männer oder Frauen waren, welchen Alters, wie viele gemeinsam oder allein Selbstmord verübten, ließe sich nach eingehenden Untersuchungen sicherlich herausstellen. Doch nicht Statistiken sollen diese Arbeit bestimmen. Das Forschungsprojekt hat es sich zur Aufgabe gemacht, vorhandene Daten und Fakten von Menschen, die in ihrer größten Not als Akt des Widerstands den Freitod wählten, zusammenzutragen. Dabei besteht unser Ziel vor allem darin, Lebensbilder von diesen Menschen zu skizzieren. Wer waren jene, die durch den nationalsozialistisch und vor allem antisemitisch geprägten Alltag in den Tod getrieben wurden? Welche Berufe übten sie aus, wo wohnten sie und wie waren ihresozialen Bindungen?
Wir suchen nach Personen, die als Verwandte oder Bekannte, Freunde oder ehemalige Nachbarn über jene Menschen Wissen haben und damit biographische Leerstellen auffüllen können. So wollen wir versuchen, uns dem Thema „Freitod unter den Verhältnissen des Nationalsozialismus“ an Hand von Fak- ten zu nähern.
Da waren zum Beispiel Bruno Rothstein, einst Direktor der Dresdner Bank, und seine Frau Ida, geb. Feig. Sie begingen am 1. 10. 1942 gemeinsam Selbstmord durch eine Überdosis Veronal. Die Eheleute wohnten zuletzt in Berlin-Wilmersdorf. Die Familie war jüdisch-liberal; zu den Feiertagen ging sie mit ihrer Tochter Hertha (später verheiratete Salomon) in die Synagoge. Der größte Teil der Familie besuchte die Synagoge in der Levetzowstraße. Nach dem Selbstmord der Eltern bestellte die Tochter den Grabstein und bezahlte diesen schon vor Fertigstellung, wenngleich aus nicht genannten aber zu vermutenden Gründen keine Aufstellung mehr erfolgte. Hertha Salomon wurde am 1. 7. 1943 nach Theresienstadt deportiert und ermordet. Über den Ehemann Dr. med. Fritz Salomon sagen die Akten „verstorben am 4. 1. 1945 in Dachau“.

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Ilse Vormerker mit ihrer Tochter am Strand von Heringsdorf

Wenige Tage später nach Bruno und Ida Rothsteins Entscheidung starb durch „Leuchtgasvergiftung“ Ilse Schragenheim am 16. 11. 1942. Sie war eine Tante von Felice Schragenheim, welche durch das 1997 verfilmte Buch von Erica Fischer „Aimée und Jaguar“ als „Jaguar“ bekannt wurde.
Bruno und Ida Rothstein waren Großonkel und Großtante des heute in Mecklenburg-Vorpommern amtierenden Landesrabbiners William Wolff. Ilse Schragenheim war die Cousine seines Vaters. Nur wenige hatten die Möglichkeit den Nationalsozialisten zu entkommen. Allein Rabbiner Wolff als letzter Vertreter einer einst großen Familie kann heute über seine Verwandten Zeugnis ablegen und so einige wenige ihrer Spuren nachzeichnen.
Auch die Eltern von Seev Jacob nahmen sich das Leben. Von seinen Eltern Willi genannt, lebte er bis zu seiner Auswanderung nach Palästina über die Jugend-Alija am 7. 11. 1938, mit seinen zwei Geschwistern und seinen Eltern in Berlin Niederschönhausen in der Treskowstraße. Der Vater, Leopold Jacob, war Fleischer und arbeitete in dem familieneignen Fleischereigeschäft in der Oranienburger Straße in unmittelbarer Nähe der Neuen Synagoge. 1923 musste das Geschäft auf Grund der Inflation schließen und der Vater wurde arbeitslos. Da er keine Arbeit mehr finden konnte, machte er sich selbständig. Er kaufte eine Personenwaage, stand auf den Straßen Berlins und wog Passanten. Damit ernährte er sich und seine Familie. Die Mutter, Charlotte Jacob, war Hausfrau.

Der Grabstein der Eltern von Seev Jakob auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee

Der Grabstein der Eltern von Seev Jakob auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee

Nachdem auch der Bruder Heinz (geboren 1915) ebenfalls über die Jugend-Alija Deutschland verlassen hatte und die Schwester Gerda (geboren 1919) mit einem Kindertransport nach England entkommen konnte, sahen die Eltern ihre Kinder im sicheren Ausland. Sie begingen am 21. Mai 1940 Selbstmord, da auch sie der wachsenden Diskriminierung, der physisch zunehmenden Ausgrenzungspolitik und letztendlich der drohenden Vernichtung durch die Nationalsozialisten nicht mehr entkommen konnten. Leopold und Charlotte Jacob wurden auf dem Friedhof in Berlin Weißensee beerdigt.
Auf diesem Weg wollen wir einen Beitrag zur Verbreitung dieser bisher unzureichend beachteten Ereignisse und Tatsachen leisten, eine Erinnerung an all jene, die in ihrer Verzweiflung keinen anderen Weg sahen. Es ist ein Teil der Spurensicherung menschlicher Tragödien durch mosaikartiges Zusammentragen des wenig Verbliebenen, mit Hilfe jener, die noch Informationen geben können.


An weiteren Informationen, Dokumenten, Briefen oder Fotos wären wir sehr interessiert und bitten den Kontakt unter folgender Adresse aufzunehmen:
Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum
Anna Fischer
Oranienburger Straße 28–30
10117 Berlin
Tel. : 49 30 88028368
E-Mail: afischer@cjudaicum.de