Brief an den Bruder

_Dieser Brief wurde aktuell von Werner Guter zur Verfügung gestellt. Seine Tante, Else Fleischmann, schrieb den Brief, der stark gekürzt abgedruckt wird, am 18. Juni 1945 an ihren Bruder Heini, Herrn Guters Vater. Dieser emigrierte 1935 mit seiner Familie nach Schweden. Der Vater der Verfasserin, zwei ihrer Geschwister und sehr viele Tanten, Onkel und Cousinen wurden ermordet. Der Ehemann von Frau Fleischmann, Lud Fleischmann, ist 1938 nach Uruguay geflohen, um dort auch für sie und ihren ungeborenen Sohn die Ausreise vorzubereiten. Frau Fleischmann konnte ihren Sohn Toni erst lange nach Kriegsende wieder finden und dann ihrem Mann nach Uruguay folgen. Toni, der eigentlich Deny heißt, lebt heute in Uruguay._

Was ich in den letzten Jahren durchgemacht habe, ist in einem Brief kaum zu beschreiben und doch will ich versuchen, Dir ein knappes Bild davon zu geben. Ihr wisst, dass ich mit Toni bei Intersteins wohnte. Nachdem Intersteins und ein älteres, in der Wohnung noch mitwohnendes Ehepaar bereits zur Verschleppung nach Polen fortgeholt waren, blieb ich mit dem Kinde allein in der Wohnung zurück. Das war im Oktober 1942. Die Abholung der Juden ging nun immer schneller vor sich.

Nachdem wir allein in der Wohnung zurückgeblieben waren, wusste ich also, dass jetzt ein Klopfen an der Tür nur uns gelten kann. Was ich damals durchgemacht habe, ist unbeschreiblich.

Allein die Zeit, da ich in der Fabrik arbeiten musste und nicht wusste, wo ich das Kind lassen sollte, war furchtbar. Ich musste ihn morgens um 5 Uhr aus dem Schlaf nehmen und ihn um 1/2 6 im Kindergarten abgeben, wo ich ihn dann erst abends abholte. Nachdem jedoch ein Kindergarten abgeholt worden war, wagte ich ihn nicht mehr dorthin zu bringen. Solange das Ehepaar Probst in der Wohnung war, behielten sie ihn bei sich, dann suchte und fand ich nicht jüdische Menschen, die ihn tagsüber bei sich behielten. Drei Familien wechselten sich im Laufe der Woche in seiner Betreuung ab, er war täglich woanders, aber 2 mal in der Woche in der gleichen Familie. Morgens, bevor ich in die Fabrik ging, stellte ich ihm sein Tischchen mit dem Frühstück vors Bett, sein Pöttchen auf den Vorleger vors Bett, meine Nachttischlampe ließ ich brennen, dann musste ich fort und das Kind, damals 3 ¾ Jahre alt, blieb bis um 9 Uhr allein. Mein Mutterherz litt qualvoll damals. Um 9 Uhr kam ein 70-jähriger fast blinder alter Herr, ein ehemaliger Redakteur von Ullstein, der im Hause wohnte, kleidete so gut er eben konnte das Kind an und nahm es mit in seine Wohnung oder brachte es zu der Familie, bei der es an dem Tage gerade bleiben sollte und wo ich es am Abend abholte. Inzwischen war ich unausgesetzt bemüht, ein Versteck für Toni zu finden; seine Patentanten bemühten sich sehr um ihn; wir wollten ihn durchaus retten. Endlich gelang es.

Tante Edith berichtete, dass sie das Kind zu Freunden ihres Pfarrers nach Thüringen bringen könnte, die sich bereit erklärt hatten, ihn aufzunehmen. Sie hatte zu diesem Zweck extra eine Reise dorthin gemacht, um alles zu besprechen und man hatte sich dazu bereit erklärt. Sie müsste aber sofort losfahren, da sie sonst das Kind erst in der folgenden Woche fortbringen könnte und ja jeder Tag eine Gefahr bedeute. Der Entschluss war schwer, aber es war die einzige Rettung. Um 9 Uhr abends reichte ich ihr das Kind und seinen Koffer zum Fenster hinaus. Trotzdem ich dem Kind nur gesagt hatte, dass es mit Tante Edith Eisenbahn fahren würde, fühlte es, dass es um etwas Besonderes ging, klammerte sich an mir fest und jammerte: „Mutti ich will bei Dir bleiben.“ Damit er keinen Lärm machte, beruhigte ich ihn mit dem Versprechen, nachzukommen. Da ging er mit, und als er unten am Balkon vorbeiging, hörte ich ihn fragen: „ Kommt sie wirklich nach, Tante Edith?“ Das war das letzte, was ich seit dem 21. Januar 1943 von meinem Kinde gehört und gesehen habe, denn ich habe ihn bisher noch nicht wieder gefunden.

Ich selbst hätte nun auch sofort verschwinden müssen, denn wenn bemerkt worden wäre, dass mein Junge fort ist, wäre die Gestapo sogleich hinter mir her gewesen. Ich erklärte überall, dass der Junge Scharlach hätte und im Krankenhaus sei. Ich lebte nur noch hinter herabgelassenen Jalousien, Tag und Nacht im Dunkeln, wagte nicht, Licht anzumachen, so dass man nie wissen konnte, dass ich zu Hause bin. Immer wieder fragte ich bei Bekannten nach einem Unterschlupf herum und endlich fand sich auch einer. Am 27. Januar 1943 verschwand ich dann endgültig. Ich habe in diesen 2 Jahren 10 mal mein Domizil gewechselt, d. h. wechseln müssen. Sobald es in der Nachbarschaft auffiel, dass ich einige Zeit ungemeldet irgendwo wohnte, musste ich wieder fort. Ich habe viele prächtige Menschen getroffen, viel Hilfsbereitschaft kennen gelernt und viele aufrechte Deutsche, die keine Nazis waren.

Viele Menschen haben mir, wenn sie mich nicht bei sich aufnehmen konnten, mit Lebensmitteln oder deren Beschaffung geholfen oder auch durch die Hergabe von Kleidung. Ich machte mich überall durch Hausarbeit nützlich und versuchte so, meine Dankbarkeit zu bezeigen. Hoffentlich habe ich aber auch noch eine andere Gelegenheit, meinen Dank für meine Lebensrettung abzustatten. Ich hatte keinerlei Ausweispapiere, konnte deshalb auch keine Reise wagen und war die ganze Zeit über in Berlin. Die Angst, auf der Strasse oder in der Bahn einem Bekannten zu begegnen, grenzte oft an Verfolgungswahn. Oft redete ich mir ein, beobachtet zu werden und in jedem Herrn, der mich anschaute, witterte ich einen Gestapobeamten.

Als der Krieg immer näher an Berlin heranrückte, als die Unterkunftsmöglichkeiten sich erschöpften, als es immer schwerer wurde, Lebensmittel aufzutreiben, entschloss ich mich, einen kühnen Streich zu wagen und er gelang. Ich fuhr nach Potsdam, wo das Auffanglager der Ostpreussen- und Schlesienflüchtlinge war. Vorher hatte ich mich genau orientiert, wieweit die Russen vorgedrungen waren und nun meldete ich mich als Flüchtling aus Sagan, das bereits seit 10 Tagen in russischer Hand war. Es gelang: Ich bekam Papiere auf den Namen Else Richter, bekam Lebensmittelkarten, bekam eine Kennkarte. Ich konnte endlich reisen. Inzwischen war nämlich mein armer kleiner Toni immer von einer Hand in die andere gereicht worden und ich durfte aus Sicherheitsgründen nie erfahren, wo er war. Meine Unruhe stieg, doch brachte ich schließlich heraus, dass er in Bayern sei, und endlich erhielt ich von seiner Patentante eine Adresse in der Nähe von München. Ich reiste am 10. März nach München ab, wo ich am 12.III. auch eintraf.
Am 30. April rückten dann die Amerikaner in München ein.

Ich war selig und sah mich in Gedanken bereits mit einem Amerikaner in einem Auto den Jungen abholen. Aber meine Prüfungen warennoch nicht vorüber. Die Hausmutter im Waisenhaus umarmte mich und weinte vor Freude, dass die Mutter ihres kleinen Toni lebte, aber das Kind hatte sie nicht mehr im Heim. Toni hatte, als er nach vielem herum gereicht werden schließlich im Waisenhaus landete, alles frühere vergessen, sogar seinen Zunahmen und den Namen seiner Mutter. Das war sicher sein Glück, denn sonst hätte man ihn jetzt aufgespürt. Er behauptete auch aus Hamburg zu sein und da es gerade um die Zeit der schweren Angriffe auf Hamburg war, glaubte man es ihm. Die Hausmutter, die seine Abkunft kannte, aber sonst nichts Näheres von ihm wusste, hatte noch einige schwere Verhöre vor der Gestapo zu bestehen, blieb aber fest und rettete so sein kleines Leben.

Er wurde als Findelkind aus Hamburg im Waisenhaus behalten. Sein Bild wurde, mit den Fotos anderer Hamburger Findelkinder im Jugendamt in Hamburg aufbewahrt und eines Tages erschien nun im Waisenhaus eine Hamburger Dame, die sich nach dem Foto in Hamburg ausgerechnet mein Kind zur Adoption ausgesucht hatte.

Trotzdem die Hausmutter sehr darum kämpfte, das Kind bei sich zu behalten, gelang ihr nichts anderes, als die Dame daran zu verhindern, das Kind gleich zu adoptieren, für den Fall, dass sich nach dem Kriege die Mutter doch noch melden sollte. Ihr könnt Euch denken, dass diese Eröffnungen mich wie ein Keulenschlag trafen. Die Liebe meines Kindes gehört einer fremden Frau, ich in München, das Kind in Hamburg und in absehbarer Zeit keine Reisemöglichkeit in Deutschland. Jetzt endlich hoffe ich, durch den Herrn, der mir diesen Brief mit nimmt, jemanden zu finden, der mich im Auto mitnimmt und bin dabei, mir die dazu nötigen Ausweise und Genehmigungen der Militärverwaltung zu besorgen. Für heute möchte ich meinen Bericht schließen, er wird Euch fürs Erste wohl auch genügen.


Werner Guter, Deny Fleischmann
Chiffre 206103