Den Drang zur Malerei hatte ich schon früh. Und nach einigem Hin und Her mit meinen Eltern durfte ich mit meinen sechzehn Jahren schließlich die Rijksakademie in Amsterdam besuchen. Ist es nun Zufall oder Vorbestimmung gewesen: Einige Jahre vorher war zwischen unserem Auswandererhausrat auch eine uns nicht gehörende und schon reichlich mit Ölfarben bekleckste Staffelei aufgetaucht. Wem mag sie wohl gehört und gefehlt haben? Einem Meister oder einem Schüler, einem Liebhaber oder einem Besessenen? Ich habe sie noch jahrelang ohne Schuldgefühl weiter beschmiert: Sie wurde mein erstes Malgerät. Die ehrwürdige, alte Staatliche Kunsthochschule war zur Zeit als ich dort anfing, doch etwas zurückgeblieben. Und obwohl einer der ehemaligen „Blauen Reiter“, der Maler Heinrich Campendank, bei uns Professor war, (man konnte den etwas beleibten Künstler, der zu seiner Qual als Deutscher zuletzt noch zur Schutztruppe verpflichtet wurde, manchmal im schlechtsitzenden Feldgrau mit
uraltem Vorderlader, verschämt beim Zentralbahnhof Wache schieben sehen) diskutierten wir Schüler der Zeichenklasse noch über Van Gogh und war Picasso der „dernier cri“ für uns. Und niemand ahnte damals etwas von der gleichzeitigen Amsterdamer Existenz eines Max Beckmanns. Zu dieser Zeit war ich ein ernsthaftes Jüngelchen und selten dazu aufgelegt, mich an den Späßen meiner älteren Mitschüler, wozu auch die späteren „Cobra“-Maler Karel Appel und Corneille gehörten, zu beteiligen. Meistens zog ich es vor, fleißig vor der Staffelei zu stehen, um abwechselnd den Gipsabguss einer klassischen Statue oder einen Akt wörtlich abzuzeichnen.
Nach ungefähr fünf Jahren – der Krieg war inzwischen zu Ende – hatte ich mein Handwerk auf der Akademie wohl so ziemlich gelernt. Da ich aber noch zu wenig „gelebt“ hatte, wusste ich mit meiner Technik nichts Rechtes anzufangen. So folgte nach Beendigung des Studiums ein gräulicher Katzenjammer. Inzwischen hatte ich auf der damals noch einsamen holländischen Nordseeinsel Terschelling meine spätere Frau kennen gelernt und wollte heiraten. Darum war ich glücklich mit der gebotenen Chance einer Gebrauchsgraphikerlehre bei der Schriftgießerei „Amsterdam“, einem damaligen Mekka niederländischer Typographie. Ohne Murren hing ich jetzt für eine ungewisse Zeit die Malerei an den Nagel. Einige Jahre später aber zog es mich zurück in die Freiheit und vor allem wieder an die Staffelei, wo ich mit der Zeit auch anfing, überzeugendere Sachen zu machen. Seitdem bewege ich mich zwischen den Polen Bild Buch. Diese scheinbar weit auseinander liegenden Gebiete rückten
jedoch im Laufe der Jahre bei mir immer mehr zusammen. So ist mir die Buchkunst schließlich ebenso lieb geworden wie die Malerei und beim Illustrieren ist mir heute manchmal genauso wohl (oder übel), als ob ich ein Bild male.
Aber ich wollte berichten, wie ich wieder nach Berlin kam. Und dazu haben die frühen Erzählungen von Heinrich Böll, zu welchen ich 1964 lithographische Illustrationen machte, stark beigetragen. Böll zeigte mir darin deutsche Menschen, mit denen ich mich beim Lesen heftig zu identifizieren begann. Ich fühlte dabei, und es sollte noch Jahre dauern, bis ich es vollständig begriff, dass im Osten, jenseits der niederländischen Grenze, Menschen wohnen, zu denen ich vielleicht nicht mehr ganz gehöre, aber von denen ich mich nie mehr lösen kann und auch nicht will. Mit solchen Gedanken etwa fuhr ich im November 1964 nach Köln (es war mein erster wirklicher Besuch in einer deutschen Stadt, seitdem ich das Land verlassen musste) und überreichte dem Autor den fertigen Sonderdruck mit den Steinzeichnungen. In seinem damaligen Haus in Köln-Müngersdorf verbrachte ich einen Nachmittag, den ich wohl nicht mehr vergessen werde. Seit jenem Herbst habe ich das Verlangen, Berlin wieder
zu sehen. Die Stadt, in der ich geboren bin und wo ich einmal als ein kleiner Berliner unter den Berlinern gelebt habe, obwohl dies genau genommen nur bis 1933 gedauert hat. In der letzten Zeit wurde der Wunsch zum Traum, und ich lief dann durch vertraute Straßen und konnte mich in diesem Zustand wunderlich gut in meinem Berlin zurechtfinden.
1971 bin ich wieder zurückgefahren. Der russische Schlafwagen Hoek van Holland – Moskau brachte mich ostwärts und ich sah in der Morgendämmerung das geisterhaft erleuchtete Niemandsland bei Helmstedt. So kam ich nach Berlin. Und die Stadt zeigte mir nicht nur ihr neues, sondern auch ein wenig ihr altes Gesicht. Ich erkannte Orte meiner Kindheit. Und ich erkannte auch die etwas mageren Reste einer Zeit, in die ich mich so oft und gerne hineinprojiziert hatte.
Ich kam am selben Bahnhof Zoo an, von wo aus wir einmal in die Emigration fuhren. Und ich lief von dort mit meinem schweren Koffer rechts in die Hardenbergstraße hinein. Ich lief wieder auf Berliner Pflaster, wie es keins so auf der ganzen Welt gibt; mit preußischem Fleiß zusammengesetzt aus unzähligen kleinen Steinen, mit denen es sich bei Krawallen schon immer so gut schmeißen ließ … Und ich war wieder ein bisschen zu Hause, obwohl ich hier nie mehr ganz zu Hause sein könnte.
In meinem hoch gelegenen Atelier in der Amsterdamer Altstadt, wo die Seemöwen kreischend an den drei großen Nord-Fenstern vorbeifliegen, höre ich regelmäßig das Donnern ein- und ausfahrender Züge. Das erinnert mich immer wieder aufs Neue an den tragischen Lärm der Berliner S-Bahn. Und so bin ich heute noch oft mit meinen Gedanken in Berlin, obwohl die schlimmste Sehnsucht jetzt etwas gestillt ist. Ist es darum verwunderlich, dass die Menschen auf meinen Bildern und Zeichnungen auch ein bisschen Berliner sind? Hans Redeker hat mich einen „Bastard“ zweier Welten genannt und ich glaube, er hat es gut gesagt. Denn bin ich nicht ein Berliner unter den Amsterdamern und ein Amsterdamer unter den Berlinern geworden?