Drucksache - 0956/XXI  

 
 
Betreff: Evaluation der AG Milieuschutz und die Folgen für den Bezirk Tempelhof-Schöneberg
Status:öffentlich  
 Ursprungaktuell
Initiator:BezirksamtBezirksamt
Verfasser:Frau Majewski, EvaOltmann, Jörn
Drucksache-Art:Mitteilung zur KenntnisnahmeMitteilung zur Kenntnisnahme
Beratungsfolge:
Bezirksamt Kenntnisnahme
Bezirksverordnetenversammlung Tempelhof-Schöneberg von Berlin Kenntnisnahme
21.02.2024 
27. öffentliche Sitzung der Bezirksverordnetenversammlung Tempelhof-Schöneberg von Berlin vertagt   
20.03.2024 
28. öffentliche Sitzung der Bezirksverordnetenversammlung Tempelhof-Schöneberg von Berlin überwiesen   
Ausschuss für Stadtentwicklung Kenntnisnahme
10.04.2024 
22. öffentliche Sitzung des Ausschusses für Stadtentwicklung      
12.06.2024 
23. öffentliche Sitzung des Ausschusses für Stadtentwicklung      

Sachverhalt
Anlagen:
Mitteilung zur Kenntnisnahme

das Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg von Berlin hat auf seiner Sitzung
am 13.02.2024 die nachfolgende Vorlage zur Kenntnis genommen und legt die Vorlage

"Evaluation der AG Milieuschutz und die Folgen für den Bezirk Tempelhof-Schöneberg"

der BVV mit der Bitte um Kenntnisnahme vor:

Evaluation der AG Milieuschutz und die Folgen für den Bezirk Tempelhof-Schöneberg

1. Das Milieuschutzrecht kurz erläutert

Das sogenannte Milieuschutz- bzw. soziale Erhaltungsrecht ist ein städtebauliches Instrument. Seine gesetzliche Grundlage findet es in den §§ 172, 173 BauGB. Der Zweck des Milieuschutzes besteht darin, die Zusammensetzung der Wohnbevölkerung aus städtebaulichen Gründen zu erhalten. Es ist deshalb kein Instrument des Mieterschutzes und dient jedenfalls nicht unmittelbar dem Schutz einzelner konkreter Bewohner. Allerdings kann das Genehmigungsverfahren als mittelbarer Rechtsreflex auch im Sinne eines Mieterschutzes wirken. Vorrangig geht es aber darum, die städtebaulichen Folgen einer Verdrängung eines Teils der angestammten Wohnbevölkerung zu vermeiden. Diese städtebaulichen Folgen können beispielsweise darin bestehen, dass ein Teil der über Jahrzehnte gewachsenen öffentlichen wie privaten Infrastruktur entwertet weil der nachfragende Teil der Bevölkerung abwandert ein anderer Teil überfordert werden könnte weil die zuziehende Bevölkerung tendenziell einen höheren Motorisierungsgrad aufweist. Die Gemeinde steht dann vor dem Problem, sowohl den preisgünstigen Wohnraum als auch die notwendige Infrastruktur andernorts mit großem Aufwand neu zu schaffen. Aerdem kommt es hierdurch zu einer Segregation der Bevölkerung.

Zu den städtebaulichen Zielen gehört aber gerade auch die Schaffung und Erhaltung sozial stabiler Bewohnerstrukturen. Dieses Ziel wird in Milieuschutzgebieten erreicht, indem preisgünstiger Mietwohnraum erhalten wird.

Damit sollen Haushalt mit mittlerem und niedrigem Einkommen nicht nur wohnen bleiben können, sondern auch ein Wohnungsangebot vorfinden, das ihnen den Zuzug ermöglicht.

Um das Milieuschutzrecht anwenden zu können, muss die Gemeinde eine entsprechende Satzung erlassen. In Berlin geschieht dies in der Form einer Rechtsverordnung. Bevor dies geschieht, werden dafür infrage kommende Gebiete ausgewählt und eingehend untersucht. Wesentliche Kriterien sind dabei

- das Aufwertungspotential: beschreibt die im Gebiet vorhandene Möglichkeit, den baulichen Zustand über den zeitgemäßen Standard hinweg wohnwerterhöhend verändern zu können;

- der Aufwertungsdruck: beschreibt, ob das Aufwertungspotential im Gebiet bereits genutzt wird bzw. ob die Rahmenbedingungen Anlass dazu geben;

- das Verdrängungspotential: beschreibt, welche sozialen Voraussetzungen zu einer Gefährdung der Zusammensetzung der Wohnbevölkerung führen können bzw. ob sich eine Veränderung bereits abzeichnet.

Die Milieuschutzverordnung beschreibt lediglich das Gebiet, in dem das Milieuschutzrecht zur Anwendung kommen soll. Darüber hinaus begründet sie lediglich einen Genehmigungsvorbehalt. Danach bedürfen der Rückbau, die Änderung und die Nutzungsänderung baulicher Anlagen der Genehmigung. Aufgrund der Umwandlungsverordnung 2020 des Senats bedarf ferner die Begründung von Wohnungs- oder Teileigentum der Genehmigung. Während der Geltungszeit des § 250 BauGB geht aber die praktische Relevanz des Genehmigungsvorbehalts für die Begründung von Wohnungs- und Teileigentum gegen Null. Denn nahezu alle entsprechenden Anträge sind nach § 250 BauGB zu beurteilen. Wann eine erhaltungsrechtliche Genehmigung zu erteilen oder unter welchen Voraussetzungen sie zu versagen ist, kann dagegen nicht in der Milieuschutzverordnung geregelt werden. Denn diese Frage ist bereits bundesrechtlich abschließend in § 172 Abs. 4 BauGB geregelt. Die Gemeinden und Länder haben insoweit keine Gesetzgebungskompetenz.

 

2. Der Milieuschutz in Berlin und Tempelhof-Schöneberg

Im Land Berlin gab es 2023 insgesamt 78 Milieuschutzgebiete. Davon befinden sich zehn im Bezirk Tempelhof-Schöneberg, nämlich

Bautzener Straße (seit 11.09.2014),

Barbarossaplatz/Bayerischer Platz (seit 11.09.2014),

Kaiser-Wilhelm-Platz (seit 11.09.2014),

Schöneberger Insel (seit 01.07.2015),

Schöneberger Norden (seit 11.03.2018),

Schöneberger Süden (seit 11.03.2018),

Tempelhof (seit 08.04.2018),

Gratzer Platz (seit 12.10.2018),

Wittenbergplatz (seit 19.03.2023),

Mariendorf (seit 19.03.2023).

Die Tatbestandsvoraussetzungen für die Genehmigung oder Versagung von Vorhaben sind in § 172 Abs. 4 BauGB abschließend geregelt. Da sie für eine Vielzahl unterschiedlicher Fallgestaltungen gelten, sind sie notwendigerweise abstrakt. Dies führt bei der Rechtsanwendung zwangsläufig zu Problemen und unterschiedlichen Rechtsauffassungen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Rechtsprechung nur peu à peu die Problemfälle entscheiden kann und dabei vereinzelt auch abweichende Urteile trifft. Ein prominentes Beispiel hierfür sind die sehr praxisrelevanten Aufzüge zu deren Zulässigkeit das OVG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 31.05.2012) und der Hessische VGH (Urteil vom 03.03.2022) grob unterschiedliche Auffassungen vertreten.

Um die Genehmigungspraxis transparent zu machen, haben mehrere Bezirksämter Prüfkriterien aufgestellt und öffentlich bekanntgemacht, so auch das Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg zuletzt am 13.09.2022. Diese Prüfkriterien können die Rechtslage aber nicht gestalten, sondern lediglich wiedergeben. Sie müssen deshalb auch regelmäßig an die aktuelle Rechtsprechung angepasst werden.

 

3. Die Evaluation des Milieuschutzes in Berlin

Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen hat eine Arbeitsgemeinschaft zur Evaluation des Milieuschutzes in Berlin ins Leben gerufen. Vom 23.11.2022 bis zum 22.11.2023 tagte diese Arbeitsgemeinschaft insgesamt sechs Mal. Hinzu kamen noch eine verwaltungsinterne Sitzung und zwei Workshops zur Vertiefung einzelner Themen. Teilnehmer der Arbeitsgemeinschaft waren

- SenStadt,

- elf Anwenderbezirke,

- BBU Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen e.V.,

- BFW Landesverband Berlin/Brandenburg e.V.,

- Berliner Mieterverein e.V.,

- Haus & Grund Berlin Bund der Berliner Haus- und Grundbesitzervereine e.V.

Ziel der Arbeitsgemeinschaft war es, die Genehmigungspraxis der Bezirke untereinander zu vergleichen um Ansatzpunkte zur Vereinfachung und Vereinheitlichung zu finden.

3.1 Vergleich der Genehmigungspraxis

Der Vergleich der Genehmigungspraxis zeigte sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede in der Genehmigungspraxis auf. Die Unterschiede betreffen insbesondere

- Aufzüge,

- Erstbalkone,

- Ausstattung der Bäder,

- Einbauküchen.

 

 

 

3.2 Energetische Sanierung

Ausgangspunkt ist, dass nach § 172 Abs. 4 Satz 3 Nr. 1a BauGB ein Genehmigungsanspruch nur dann besteht, wenn die Maßnahme die gesetzlichen Mindestanforderungen des Gebäudeenergiegesetzes (GEG) erfüllt, jedoch nicht, wenn es sie übererfüllt. Die Zielstellung ist es jedoch, im Milieuschutz über die Mindestanforderungen hinausgehende Maßnahmen zu genehmigen, wenn dadurch eine geringere oder jedenfalls keine höhere Belastung für die Mieterschaft entsteht als bei einer energetischen Sanierung im Rahmen der Mindestanforderungen. Dieses Ziel wurde auch schon bisher im Bezirk Tempelhof-Schöneberg verfolgt.

3.3 Aufzüge

Hinsichtlich des nachträglichen Anbaus von Aufzügen soll sich die Genehmigungspraxis an der Berliner Rechtsprechung orientieren. Danach kommt es maßgeblich auf die Anzahl der oberirdischen Geschosse an. Weist ein Gebäude mehr als vier oberirdische Geschosse auf, ist ein Genehmigungsanspruch indiziert. Auf die bauordnungsrechtlichen Detailanforderungen (bspw. Stufenlosigkeit, Kabinengröße) kommt es nicht an. Allerdings ist entsprechend der Berliner Rechtsprechung ferner zu prüfen, ob der Anbau des Aufzugs eine ungewöhnlich kostenaufwändige Anforderung darstellt oder ob eine überdurchschnittliche Verdrängungsgefahr besteht.

Hinsichtlich der Kosten haben die Gerichte bislang zwar Einzelfälle entschieden, ohne aber abstrakte Richtlinien zu entwickeln, anhand derer die Bezirke die Kosten bei künftigen Fällen beurteilen können. So wurde zwar zuletzt entschieden, dass Kosten in Höhe von ca. 180.000 Euro brutto zu hoch seien. Dieser Wert stellt aber angesichts generell steigender Baukosten nur eine Momentaufnahme dar. SenStadt beabsichtigt deshalb die Erstellung und Fortschreibung einer qualifizierten Baukostenliste. Die Daten für diese Liste werden von den Bezirken zugeliefert werden müssen. Diese Liste soll es künftig ermöglichen, die Höhe der zulässigen Baukosten zu beurteilen.

Das Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg wird seine künftige Verwaltungspraxis an diesem Konsens der Arbeitsgemeinschaft orientieren.

3.4 Änderungen des Badezimmers

Bislang wurden im Bezirk Tempelhof-Schöneberg der Einbau wandhängender WC und Strukturheizkörper in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts Berlin (zuletzt mit Urteil vom 22.12.2023) versagt.

Die Arbeitsgemeinschaft schlägt stattdessen vor, darauf abzustellen, ob es sich um eine grundlegende Veränderung des Badezimmers bzw. der sanitären Ausstattung handelt. Ist dies der Fall, sei die Genehmigung zu versagen. Ist dies dagegen nicht der Fall, soll es im Weiteren darauf ankommen, ob das Badezimmer in Abngigkeit vom Alter und Zustand Erneuerungsbedarf aufweist. Nur wenn dies der Fall ist, werden ähnlich wie bei den Aufzügen die Kosten und die Verdrängungsgefahr geprüft. Auch hierfür soll es eine qualifizierte Baukostenliste geben, auf die alle Bezirke zugreifen können.

Die Umsetzung dieses Vorschlags in die Entscheidungspraxis des Bezirks Tempelhof-Schöneberg hängt im Wesentlichen von zwei Punkten ab:

- Zum einen muss geklärt werden, was im Einzelnen unter einer grundlegenden Veränderung des Badezimmers zu verstehen ist. Da es sich hierbei um einen unbestimmten Begriff handelt, droht erneut eine unterschiedliche Praxis der Bezirke.

- Zum anderen werden Anhaltpunkte für die Beurteilung der Kosten benötigt. Dazu gibt es bislang weder Erfahrungswerte im Bezirksamt noch Rechtsprechung.

Die Senatsverwaltung beabsichtigt das vorgeschlagene Prüfverfahren zu prüfen und ggf. weiter zu verbessern. Die finale Fassung wird deshalb abgewartet.

3.5 Erstbalkone

Hinsichtlich des nachträglichen Anbaus von Erstbalkonen stellt die Arbeitsgemeinschaft fest, dass keine bundesweiten Erhebungen zum Ausstattungsgrad von Wohnungen mit Balkonen vorliegen und auch die Bauordnung Berlin Balkone anders als Aufzüge nicht fordert. Aus diesem Grund besteht für Balkone kein Genehmigungsanspruch aus § 172 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 BauGB. Balkone sind aber aufgrund der umlagefähigen Baukosten (Modernisierungsumlage), der anteiligen Erhöhung der Mietfläche und weil es sich bei ihnen ab 4,00 qm um ein wohnwerterhöhendes Merkmal laut Mietspiegel handelt geeignet, Wohnraum zu verteuern und damit der Verdrängung Vorschub zu leisten. Im Ergebnis sind Balkone nicht genehmigungsfähig.

Dies entspricht der bisherigen Praxis im Bezirk Tempelhof-Schöneberg.

 

 

3.6 Weitere Maßnahmen

Die Arbeitsgemeinschaft hat zwar ihre Arbeit beendet. Der Prozess der Vereinheitlichung und Optimierung des Genehmigungsverfahrens ist damit aber noch nicht abgeschlossen. Weitere Maßnahmen wurden vereinbart:

- Um eine einheitliche Genehmigungspraxis sicherzustellen und dem Grundsatz der Einheitlichkeit des Verwaltungshandels gerecht zu werden, werden die Ergebnisse der Evaluierung in eine Ausführungsvorschrift überführt.

- SenStadt entwickelt unter Einbindung der Bezirke im Rahmen des eBG ein Fachverfahren für das soziale Erhaltungsrecht. Entsprechend werden Mustervorlagen und -formulare erstellt und bereitgestellt.

- SenStadt lässt unter Beteiligung der Bezirke eine qualifizierte Baukostenliste erstellen und schreibt diese laufend fort.

- SenStadt beauftragt unter Beteiligung der Bezirke die Ermittlung eines Maßstabs zur Prüfung der Verdrängungsgefährdung in sozialen Erhaltungsgebieten.

- Fortlaufende Bearbeitung und Entwicklung von Verfahrensweisen für weitere Themen wie Abriss und Neubau bei unterausgenutzten Grundstücken, Umnutzung von Wohnraum (insb. möbliertes Wohnen, Untermietverträge), Befristung erhaltungsrechtlicher Genehmigungen und Nebenbestimmungen (z. B. Bindung an Kostenvoranschläge).

-Beim vorgeschlagenen Prüfverfahren zur energetischen Sanierung wird im Rahmen der folgenden Arbeitsschritte geprüft, inwieweit weitere Standardisierungen (z.B. Gebäudeklasse, Maßnahmenumfang, Kosten und Einspareffekte, Modell- oder Musterrechnungen) möglich sind und weitere Fragen beim Einsatz von Fördermitteln (z.B. Bescheid vor Förderzusage, Nicht-Inanspruchnahme von Fördermitteln) geklärt.

- Das vorgeschlagene Prüfverfahren bei baulichen Änderungen des Badezimmers wird im Rahmen der Erstellung der Ausführungsvorschrift im Jahr 2024 geprüft und ggf. weiter verbessert.

- Die AG Milieuschutz bittet im Rahmen der Erstellung des Mietspiegels zu prüfen, ob es sich bei wandhängendem WC und Strukturheizkörper noch um wohnwerterhöhende Merkmale handelt.

4. Bewertung

Das Bezirksamt begrüßt die Bemühungen der Senatsverwaltung für eine einheitliche Genehmigungspraxis der Bezirke und wird die eigene Praxis künftig hieran ausrichten. In diesem Zusammenhang wird auch der Erlass einer verbindlichen Ausführungsvorschrift als hilfreich angesehen. Die Praktikabilität und Rechtssicherheit der vorgeschlagenen Maßnahmen wird sich in der Umsetzung zeigen müssen. Für die Bauherren bedeutet dieser Schritt mehr Vorhersehbarkeit der Entscheidung durch die Verwaltung.

 

 
 

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