Auszug - Schwerpunktthema  

 
 
7. öffentliche Sitzung des Jugendhilfeausschusses
TOP: Ö 6
Gremium: Jugendhilfeausschuss Beschlussart: erledigt
Datum: Mi, 24.08.2022 Status: öffentlich
Zeit: 17:00 - 19:46 Anlass: ordentliche Sitzung
Raum: BVV-Saal
Ort: Rathaus Schöneberg
 
Beschluss


Die Referentinnen der Universität Hildesheim (Frau Böttcher und Frau Oppermann, im Folgenden mit „UH“ abgekürzt) stellen mit Hilfe einer Präsentation (Anlage 1) den Ergebnisbericht „Helmut Kentlers Wirken in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe“ vor.

 

In der anschließenden Debatte erkundigt sich BV Rutsch nach der Zusammenarbeit der Universität und dem Bezirksamt. Er bittet um Auskunft über öffentliche Reaktionen auf die Studie und fragt nach, warum die Aktenlage unvollständig ist.

Die UH bezeichnet die Zusammenarbeit mit verschiedenen Bezirksämtern, auch mit Tempelhof-Schöneberg, als gut, die Akten wurden - soweit vorhanden - anonymisiert zur Verfügung gestellt. Nach Veröffentlichung gab es national und international Resonanz in Form von Anfragen und Presseberichten. Warum die Akte nicht vollständig ist, lasse sich nicht beantworten.

Der Jugendamtsdirektor erläutert ergänzend, dass die Verwaltung die Akte Fritz H. durch einen Zufall auf dem Dachboden gefunden habe. Nach den damaligen Richtlinien wurden alle Akten nach einer kürzeren Frist vernichtet. Bei den vorgefundenen Unterlagen handele es sich um ein Sammelsurium, das man nach heutigem fachlichen Standard nach Fallakte und Pflegestelle trennen würde. Er weist außerdem darauf hin, dass die Verantwortlichkeit im fraglichen Zeitraum beim Jugendamt Schöneberg lag, nicht Tempelhof-Schöneberg.

 

BV Kasper fragt nach, ob die Senatsverwaltung Aktenordnung mittlerweile geändert hat und Fristen verlängert worden sind.

Der Jugendamtsdirektor erläutert, dass im Zusammenhang mit den gewalttägigen und sexuellen Übergriffen in Kinderheimen die Aufbewahrungsfristen auf 40 Jahre verlängert wurden. Zuvor sei es sogar verpflichtend gewesen, sie nach 10 Jahren zu vernichten. Eine Akte muss vor der Vernichtung dem Landesarchiv angeboten werden, wenn es dort keine Verwendung gibt, werden auch die Verzeichnisse vernichtet. Dass die Akte Fritz H. noch vorhanden war und gefunden wurde, war Glück und hängt auch damit zusammen, dass das Jugendamt damals mit Karteikarten gearbeitet hat.

 

BV Feldkamp erkundigt sich, ob sich aus der Akte Fritz H. ein Problembewusstsein über Fritz H im Jugendamt herauslesen lässt. Er bezieht sich auf den in der Präsentation verwendeten Begriff der Immunisierung und fragt, ob die vorhandenen Hinweise nicht weitergegeben wurden. Er habe außerdem keinen klaren Eindruck der Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Landesjugendamt und bezirklichen Jugendämtern erhalten. Er bittet noch einmal um Auskunft, worin sich die Akte Fritz H. von den Vergleichsakten unterscheidet.

Die UH antwortet, dass die Studie die damalige Kommunikation rekonstruiert habe. Danach gab es eine Reihe von starken Signalen, die die Beteiligten hätten aufhorchen lassen müssen, z.B. findet sich ein Vermerk darüber, dass ein Verfahren weg. Kindesmissbrauchs eingestellt wurde. Es fehle jedoch jegliche weitere Kommunikation dazu. Aus der Akte wird insgesamt nicht ersichtlich, warum Informationen nicht weitergegeben wurden. In den Vergleichsakten wurde deutlich, dass Aktenführung durchaus anders sein konnte in dieser Zeit, z.B., dass Kinder und Jugendliche angehört wurden usw.

Die Zuständigkeit habe damals beim Landesjugendamt gelegen.

Jugendamtsdirektor Schwarz ergänzt, dass 1990 der Wechsel vom Jugendwohlfahrtsgesetz zum Kinder- und Jugendhilfegesetz stattgefunden habe. Seitdem ist die Zuständigkeit für diese Hilfen in Berlin eindeutig und ausschließlich geregelt. Während es früher Wechsel der Zuständigkeiten gab, sind heute ganz eindeutig sämtliche Pflegestellen in der Verantwortung der Bezirke.

BV Volkmann fragt, welche öffentlichen Reaktionen es auf die Studie gegeben habe. Die UH berichtet von einer Pressekonferenz und nationalen wie international Anfragen.

BD Studte fragt, ob es geplant ist, die strukturellen Rahmenbedingungen genauer zu untersuchen, um doch noch die Frage beantworten zu können, warum nicht reagiert wurde.

Die UH erläutert, dass der Fokus der Forschung nicht auf dem Warum liege, das sei auch gar nicht vermerkt, sondern auf den Strukturen. Für das Warum müsse man die beteiligten Personen befragen, die waren nicht im Fokus dieser Untersuchung.

Jugendamtsdirektor Schwarz ergänzt, dass die Verwaltung die Akte gelesen und geprüft habe, ob sich dienstrechtliche Konsequenzen ableiten ließen. Es ließen sich zwar Personen identifizieren, aber es ließ sich nicht feststellen, warum bestimmte Entscheidungen so getroffen wurden. Normalerweise würde die Anforderung einer gutachterlichen Stellungnahme dokumentiert werden. Dies war damals nicht der Fall. Das Gutachten sei einfach dagewesen und wurde abgeheftet.

Stadtrat Schworck ergänzt, dass das Jugendamt als Behörde intern - dienstrechtlich - ermittelt habe, unabhängig von einer Strafverfolgung. Hier gab es auch Ermittlungen seitens der Staatsanwaltschaft, die jedoch in Bezug auf die handelnden Personen in unserem Jugendamt auch eingestellt wurden. Es wurde aber nicht infrage gestellt, dass die Missbräuche stattgefunden haben.

 

BD Lenck erkundigt sich nach den erwähnten personellen Verflechtungen zur Odenwaldschule und Max-Planck-Institut und ob es weitere Informationen dazu gebe. Diese Zustände seien offenbar nicht singulär gewesen. Es erscheine heute völlig absurd, dass es explizites Ziel war, Kinder bei Pädophilen unterzubringen. Sie begrüße daher das Eingangsstatement der UH und stellt fest, dass der JHA betroffen ist, dass in unserem Bezirk so etwas stattfinden konnte, mit Unterstützung des Amtes, völlig unabhängig von der strafrechtlichen Aufarbeitung.

 

Die UH bestätigt, dass sich Informationen über die pädophilen Netzwerke in der Studie nachlesen lassen.

Stadtrat Schworck ergänzt, dass noch eine zwei Jahre ältere Studie der Göttinger Universität gebe und man nach dieser Lektüre die personellen Verquickungen von Personen des Pädagogischen Zentrums bis in die höchsten Ebenen der Senatsverwaltung hinein besser verstehe. Er habe den Eindruck, dass es eine breite Schicht der Bevölkerung damals von einem Zeitgeist getragen war, in dem diese Gruppen entweder gleichgültig aufgenommen wurden oder es fast schon zur Normalität gehörte, dass beispielsweise gefordert wurde, sexuelle Kontakte ab 12 Jahren straffrei zu stellen. Er könne kein Unrechtsbewusstsein entdecken.

BD Lenck macht deutlich, dass im Fall der Odenwaldschule bekannt war, dass der Schulleiter Kinder in seiner WG missbraucht. Dies wurde in der Öffentlichkeit jedoch nicht als Experiment dargestellt. In Berlin sei das anders gewesen und bewusst und öffentlich erklärt worden.

Die UH gibt zu bedenken, dass sich diese Zustände nicht mit dem Zeitgeist erklären ließen. Auch in den 70ern hätte es Pflegekindervorschriften gegeben, gegen die in Berlin eindeutig verstoßen wurde. Dies muss auch Kentler bewusst gewesen sein, weshalb er es auch erst publiziert habe, als es strafrechtlich nicht mehr verfolgbar war. Die Pflegestelle Fritz H. konnte außerdem bis 2003 existieren, da sei der Zeitgeist bereits ein anderer gewesen. Bei derttinger Studie habe der Fokus auf Kentler als Person gelegen. Die UH habe sich mit den Strukturen befasst.

BV Buchholz stellt fest, dass Kentler Ende der 80er Jahre veröffentlicht und 10 Jahre später noch einen Preis bekommen habe, was heute unvorstellbar sei. Er erkundigt sich, welche außergerichtliche Einigung es mit den beiden Klägern gegeben habe.

Jugendamtsdirektor Schwarz berichtet, dass es ein Verfahren zweier Männer gegen den Senat gegeben habe, in dem Haftungsansprüche geltend gemacht wurden. Die Details der Vereinbarung zwischen dem Land Berlin und den Männern, sind nicht öffentlich bekannt.

Er stellt fest, dass Jugendamt und Jugendhilfeausschuss während des laufenden Verfahrens keine Position zu den Vorgängen und zur Pädophilie-Debatte der 1960er/1970er Jahre beziehen konnten. Jetzt könnte ein guter Zeitpunkt sein, um sich zu entschuldigen.

 

Der Ausschussvorsitzende bedankt sich bei den Referentinnen und stellt fest, dass es um Kinder gehe, nicht um „jugendliche Treber“ und man die Sprache der damaligen Täter nicht übernehmen dürfe. Er bittet die Koordinatorin der Pflegekinderhilfe im Jugendamt, die Folgestudie „Junge Menschen in Pflegefamilien. Kinderrechte stärken“ zu erläutern. Es folgt eine Präsentation (Anlage 2), in der es um die heutige Situation der Pflegekinder und Schlussfolgerungen geht, wie die Pflegekinderhilfe weiter qualifiziert werden kann.

 

Im Anschluss erfragt BV Frede den Begriff Careleaver. Er möchte außerdem wissen, worauf sich der Begriff der Steuerungsfähigkeit bezieht. 

Das Jugendamt erklärt, dass „Careleaver“ junge Erwachsene bezeichnet, die aus sich aus dem System der Jugendhilfe heraus verselbständigen. Auf die Frage der Steuerungsfähigkeit geht Jugendamtsdirektor Schwarz ein und erklärt, dass in den 12 Berliner Bezirke die Pflegekinderhilfe unterschiedlich organisiert ist, entweder im Jugendamt oder über freie Träger oder als Mischform. Er beklage regelmäßig in der AG der Pflegekinderhilfe, dass es keine berlinweite Steuerung gebe, weil man so auch keine einheitlichen Standards entwickeln könne. In Tempelhof-Schöneberg gebe es vergleichsweise viele

Pflegestellen, aber selbst für die Gestaltung der Pflegeverhältnisse seien noch keine einheitlichen Rahmenbedingungen vorhanden.

Problem aus Sicht der Jugendhilfe sei z.B., dass die finanzielle Unterstützung nicht auskömmlich ist. Es brauche viel persönliches Engagement, um ein Kind aufzunehmen. Pflegeeltern würden kein Elterngeld erhalten. Wenn sie ein kleines Kind aufnehmen, können sie seltener eine Betreuung zu Hause ermöglichen als leibliche Eltern. Er plädiert als Ausgleich für ein „Berliner Elterngeld“ zusätzlich zu den Hilfen zur Erziehung und zum Kindergeld.

 

BV Buchholz fragt nach der Akquise der Pflegefamilien und ob die ethnische Zusammensetzung die Gesellschaft spiegele. Das Jugendamt bestätigt, dass die Pflegefamilien sehr verschiedene kulturelle Hintergründe hätten, erläutert aber, dass es grundsätzlich schwierig sei, ältere Kinder in Familien zu vermitteln. Die meisten Pflegeeltern nehmen Kinder im Alter von 0-3 Jahren auf, danach sei es gängige Praxis, die Kinder in Erziehungsstellen mit pädagogischen Fachkräften und anderer Finanzierung zu geben.

Jugendamtsdirektor Schwarz ergänzt, dass es eine derzeit täglich bis zu 35 unbegleitete minderjährige Geflüchtete z.B. aus der Türkei mit kurdischem Hintergrund gebe und das Jugendamt davon ausgeht, dass es in Berlin Gruppen gibt, denen das Instrument der Pflegefamilie gar nicht bekannt ist. Hier muss mehr informiert werden, um diese Kinder kultursensibel unterzubringen.

 

BD Bedersdorfer erkundigt sich nach dem Auslaufen der Finanzierung für Kinder aus Pflegefamilien, wenn diese volljährig werden. Das Jugendamt erläutert, dass im Bezirk Übergangspläne ab 16 Jahren erarbeitet würden, um die Verselbständigung anzuregen. Mit der Volljährigkeit stelle der junge Erwachsene selbst ggf. einen Antrag auf weitere Hilfe zur Erziehung oder auf soziale Unterstützung. Das neue Kinder- und Jugendstärkungsgesetz sieht vor, ein Jahr vorauszuplanen.

 
 

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