Auszug - Flüchtlinge mit Behinderung Franziska Schneider, Beauftragte für Menschen mit Behinderung  

 
 
21. öffentliche Sitzung des Ausschusses für Integration
TOP: Ö 4
Gremium: Ausschuss für Integration Beschlussart: erledigt
Datum: Do, 12.02.2015 Status: öffentlich
Zeit: 17:00 - 19:10 Anlass: ordentliche Sitzung
Raum: Sitzungsraum 2113
Ort: Rathaus Schöneberg
 
Beschluss


Die Beauftragte für Menschen mit Behinderung, Frau Schneider, gibt mithilfe einer PowerPoint-Präsentation einen Sachstandsbericht zur Situation von Flüchtlingen mit Behinderung in Berlin. Die Präsentation wird vorab als Tischvorlage verteilt und ist dem Protokoll als Anlage beigefügt.

Zunächst informiert sie den Ausschuss über die gesetzlichen Grundlagen. An erster Stelle steht hier das Grundgesetz, welches seit seinem Bestehen das Grundrecht auf Asyl sichert. Erstmalig 1993 hat es eine Einschränkung durch eine Änderung des Grundgesetzes (Einfügung des Artikel 16a) gegeben. Die Änderung führte u.a. dazu, dass alle an Deutschland angrenzenden Staaten als sichere Herkunftsländer ernannt wurden. Das im gleichen Jahr beschlossene Asylbewerberleistungsgesetz führte zu einer weiteren Einschränkung, d. h., vor dem Jahr 1993 hatten alle Asylbewerber Zugang zum regulären Sozialhilfesystem in Deutschland, was seit 1993 nicht mehr möglich ist. Die Asylbewerber erhalten seitdem ausschließlich Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Die zuständigen Leistungsstellen sind die Zentrale Leistungsstelle für Asylbewerber (ZLA), die angesiedelt ist bei der Zentralen Aufnahmeeinrichtung für Asylbewerber (ZAA). Angegliedert an die ZLA ist ein Sozialdienst. Hier werden Beratungsgespräche geführt und andere Unterstützungshilfen gegeben. In bestimmten Fällen (z. B. abgelehnte Asylbewerber/innen mit Duldung) sind die bezirklichen Sozialämter für die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zuständig. Das Sozialamt Tempelhof-Schöneberg ist zuständig für den Geburtsmonat Juli.

Asylbewerber mit Behinderungen haben keinen Zugang zu Leistungen nach dem SGB V, SGB VIII, SGB XI und SGB XII, die für diesen Personenkreis wichtig und regulär vorhanden sind. Für sie kann nach dem Asylbewerberleistungsgesetz nur eine Unterkunft, die Grundsicherung, eine basismedizinische Versorgung bei akuten Schmerzzuständen oder bei ernsthaften Erkrankungen sichergestellt werden. Besonderheiten werden im § 6 des Asylbewerberleistungsgesetzes geregelt. Hier können besondere Leistungen, analog den SGB-Leistungen, für besondere nachgewiesene gesundheitliche Bedarfe gewährt werden in Form einer Ermessensentscheidung. Diese Entscheidung wird gefällt vor dem Hintergrund aller zu berücksichtigenden Umstände und aller zu beachtenden Rechtsgrundlagen.

Zu den schutzbedürftigen Asylbewerbern gehören unbegleitete Minderjährige, schwangere Frauen, Alleinstehende mit minderjährigen Kindern, Flüchtlinge mit Behinderung, alte Flüchtlinge und Opfer von psychischer und/oder physischer Gewalt.

Die EU-Kommission bemängelte vor Jahren das Nichtvorhandensein eines Feststellungsverfahrens für die Gruppe der besonders schutzbedürftigen Asylbewerber. Aus diesem Grund wurde 2013 eine neue EU-Aufnahmerichtlinie verabschiedet. Diese muss in allen EU-Mitgliedsstaaten bis zum 20. Juli 2015 in nationales Recht umgewandelt werden. Unter anderem enthält die neue Aufnahmerichtlinie eine Konkretisierung der Verpflichtung für nationale Feststellungsverfahren und für die Gewährleistung der bedarfsgerechten Versorgung. Es liegt bereits jetzt ein Rechtsgutachten vor, in dem die Möglichkeiten der Leistungsgewährung für besondere Bedarfe nach § 6 im Asylbewerberleistungsgesetz dargestellt sind. Das Rechtsgutachten kommt zu dem Ergebnis, dass sofern ein Bedarf festgestellt wurde, die Leistung unter Berücksichtigung der alten EU-Aufnahmerichtlinie, der UN-Behindertenrechtskonvention, der UN-Kinderrechtskonvention zu erbringen ist. Das Land Berlin geht, nachdem 2007 von der EU-Kommission eine Nichtumsetzung festgestellt wurde, einen besonderen Weg und hat das sogenannte Berliner Modell entwickelt. Es wurde das Berliner Netzwerk schutzwürdiger Flüchtlinge (BNS) gegründet. Im Auftrag des Senats erstellen 5 NGOs des Berliner Netzwerkes ein Feststellungsverfahren für jeweils eine Gruppe besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge. Weitere Aufgaben der NGOs sind u.a. die Einrichtung einer Fachberatungsstelle für eine Gruppe der schutzbedürftigen Flüchtlingsgruppen sowie die Finanzierung dieser über zeitlich befristete EU-Fördermittel. Innerhalb des Berliner Modells leiten die Erstanlaufstellen  einen Asylbewerber bei Feststellung einer vermuteten Schutzbedürftigkeit an das gesamte Berliner Netzwerk weiter oder direkt an die vermutete, zuständige Fachberatungsstelle. Laut eines Zwischenberichtes des Berliner Netzwerkes für besonders schutzwürdige Asylbewerber aus dem Jahr 2013 kommen die Erstanlaufstellen der Aufgabe nur unzureichend nach. Die Mitarbeiter in den Erstanlaufstellen sind häufig nicht über das Berliner Modell informiert.

Die Fachberatungsstelle für Flüchtlinge mit Behinderung (BZSL) ist angesiedelt beim Berliner Zentrum für selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen. Die Aufgaben dieser Beratungsstelle bestehen darin festzustellen, ob eine Behinderung vorhanden ist und diesbezüglich Empfehlungen für den Betroffenen zusammenzustellen. Die Beratungsstelle übernimmt das Fallmanagement für jeden einzelnen Fall, d. h. die Begleitung während der gesamten Antragstellung.

Ende 2013 gab es die erste Fachkonferenz, in der die Situation von minderjährigen Flüchtlingen mit Behinderung dargestellt wurde. Insgesamt wurden auf der Fachkonferenz 42 Einzelfälle von nicht bedarfsgerecht versorgten Kindern mit Behinderung im Rechtskreis des Asylbewerberleistungsgesetzes zusammengetragen und analysiert. Bemängelt wurde die lange Bearbeitungszeit in der Leistungsstelle. Ferner wurde festgestellt, dass die erforderliche Doppelkompetenz (Asylbewerberleistungsgesetz und Schwerbehindertenrecht bzw. Leistungen der Behindertenhilfe) in den Anlaufstellen fehlt und viele Unterkünfte nicht über eine barrierefreie Ausstattung verfügen.

Für die Standards in Flüchtlings- und Obdachlosenunterkünften ist die Berliner Unterbringungsleitstelle (BUL) beim LAGESO zuständig.

Verschiedene bezirkliche Behindertenbeauftragte haben sich an die BUL gewandt mit der Frage ob die Barrierefreiheit der Unterkünfte dokumentiert wird? Beantwortet wurde diese Frage mit einem „Nein“.

Dieselbe Anfrage bei den bezirklichen Sozialämtern hat ergeben, dass diese auf die Zuständigkeit des LAGESO verweisen. Eine Kleine Anfrage im Abgeordnetenhaus zur Zuständigkeit für den baulichen Zustand von Flüchtlings- und Obdachlosenunterkünften ergab, dass die bezirklichen Bauaufsichtsämter hierfür zuständig seien. Durch die mit der Deregulierung würden jedoch Bauabnahmen so gut wie nicht mehr durchgeführt. Die Einhaltung der baurechtlichen Vorhaben werde lediglich im Rahmen der Antrags- und Genehmigungsverfahren geprüft.

Derzeit liegt eine aktuelle Erhebung der AG „Flüchtlinge mit Behinderung“ im Fachforum Menschen mit Behinderung und Zuwanderungsgeschichte vor, die allerdings keinen Anspruch auf Repräsentativität erhebt. Die AG Flüchtlinge mit Behinderung hat einen Fragebogen erarbeitet zur bedarfsgerechten Versorgung der Asylbewerber mit Behinderung oder mit chronischen Erkrankungen in Erstaufnahmeeinrichtungen. Der Fragebogen wurde insgesamt an ca. 40 Wohnheimleitungen verteilt. Insgesamt kamen nur 5 beantwortete Fragebögen zurück. In diesen beantworteten Fragebögen wurden 52 Fälle benannt, die eine ungenügende behindertengerechten Versorgung aufweisen. Die abschließende Auswertung steht kurz vor der Beendigung und wird von der AG „Flüchtlinge mit Behinderung“ zusammengestellt. Auch bei dieser Befragung zeigte sich, dass die Leitungen und die Mitarbeiter/innen der Wohnheime häufig keine Kenntnis vom Berliner Netzwerk für schutzbedürftige Flüchtlinge und deren Angebote haben.

 

In der nachfolgenden Diskussion werden detaillierte Fragen zum Vortrag gestellt.

 

BV Özdemir möchte wissen, welche Prozesse eingeleitet werden müssen, wenn ein Asylbewerber in die Erstaufnahmestelle kommt?

Frau Schneider teilt mit, dass Asylbewerber/innen mit Behinderung genau wie alle anderen zuerst die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber aufsuchen, wo auch ggf. seine  besondere Schutzbedürftigkeit festgestellt wird und die entsprechenden Schritte eingeleitet werden. Die Verteilung der Daten erfolgt berlinweit mithilfe einer Software. 

 

BD Neu bittet um die Kontaktdaten der genannten Einrichtungen. Die Kontaktdaten werden dem Protokoll als Anlage beigefügt.

 

BV Kiderlen möchte zunächst wissen, was es in der Praxis bedeutet, dass seit 2005 keine Bauabnahmen mehr stattfinden und ob Asylbewerber mit schweren Traumen unter den Aspekt „Behinderung“ fallen?

Hierzu führt Frau Schneider aus, dass die mit der letzten Novellierung der Landesbauordnung im Jahr 2005 stattgefundene Deregulierung von den bezirklichen und dem Landes- Behindertenbeauftragen äußerst kritisch gesehen wird. Da behördliche Bauabnahmen seitdem kaum noch durchgeführt werden sei eine abschließende bauaufsichtsrechtliche Kontrolle des Vollzugs der rechtlichen Vorhaben und der Mindeststandards, nicht nur aber auch in Bezug Barrierefreiheit, nicht mehr gewährleistet.

Traumatisierte Flüchtlinge gehören in die Gruppe der Menschen die psychische und/oder physische Gewalt erlitten haben. Das wird in der EU-Aufnahmerichtlinie 2013 konkretisiert.

 

Abschließend fragt die Ausschussvorsitzende nach den Gründen für bestehende fehlende Informationen über das existierende Berliner Modell.

Frau Schneider berichtet über die Einführung des Berliner Modells im Jahr 2008/2009. Gleichzeitig ist das Berliner Netzwerk schutzbedürftiger Flüchtlinge auf alle Erstaufnahmeeinrichtungen, die bezirklichen Sozialämter und die Zentrale Aufnahmeeinrichtung für Asylbewerber zugegangen und hat Informationsveranstaltungen durchgeführt und weitere Veranstaltungen und Schulungen angeboten. Flyer wurden in 9 Sprachen erstellt, die in allen Erstaufnahmeeinrichtungen ausliegen und bei Verdacht auf das Bestehen einer Schutzbedürftigkeit ausgehändigt werden müssen. Es sei zu vermuten, dass diese Informationen z. B. bei Personalwechseln nicht verlässlich weitergegeben werden. Ebenfalls gebe es keinen Leitfaden für Flüchtlingswohnunterkünfte für die Fälle bei denen zu Beginn der Aufnahme zwar eine Schutzbedürftigkeit vorliegt, diese aber aufgrund einer nicht sofort sichtbaren Behinderung erkannt werden kann.

 

 

 

 

 

          

 
 

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