Dr. Franz-Werner Dippel

Dr. Franz-Werner Dippel
  • Dr. rer. med. Franz-Werner Dippel ist Dozent für Ernährung & Gesundheit und selbstständig. Bis 2017 war er lange Zeit Projektleiter für evidenzbasierte Medizin, Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung in der pharmazeutischen Industrie.

Darmgesundheit – Die Theorie

Ein Beitrag von Dr. Franz Werner Dippel

„Gesundheit beginnt im Darm.“ Das wusste schon der griechische Arzt Hippokrates, der diesen Satz vor fast 2500 Jahren schrieb. Heute wissen wir, dass der Darm das evolutionsgeschichtlich älteste Organ aller mehrzelligen Organismen ist. Darüber hinaus ist der Darm auch das erste Organ in der Embryonalentwicklung des Menschen. Das alles mag erklären, warum der Darm in zahlreichen Kulturen als Sitz der Seele und als Zentrum der Energie und des Wohlbefindens gilt.

Aufbau und Funktion des Darms
Der menschliche Darm hat eine Länge von 5 bis 7 Metern. Ringfalten, Zotten und Bürstensaumzellen tragen zu einer erheblichen Oberflächenvergrößerung bei. Damit ist er unsere größte Kontaktfläche zur Außenwelt. Über dieses Einfallstor kommt unser Organismus mit einer Vielzahl an Fremdstoffen und krankmachenden Keimen in Kontakt. Deshalb befinden sich ca. 80 % aller Immunzellen des Körpers auf der Innenseite der Darmwand. Den Verdauungstrakt teilen wir uns mit Billionen von Mikroorganismen. Sie bilden zusammen ein eigenes Organ. Die Besiedlungsdichte nimmt vom Mund bis zum Po ständig zu. 98 % aller Darmbakterien halten sich jedoch im Dickdarm auf. Über den Vagusnerv steht das enterische Nervensystem, ein komplexes Nervengeflecht im Darm – auch Nervensystem des Darms oder Bauchhirn genannt, in direktem Kontakt mit dem Gehirn.

Symbiose von Mensch und Mikrobe
Über Jahrtausende hinweg hat sich unser Verdauungssystem anatomisch und funktionell an das Nahrungsangebot seiner Umgebung angepasst. Millionen von hochspezialisierten Mikroorganismen haben sich während dieser Zeit in unserem Darm angesiedelt und sind mit uns eine enge Verbindung eingegangen. Sie unterstützen unsere Verdauung und unseren Stoffwechsel, indem sie uns mit lebensnotwendigen Substanzen wie Vitaminen, kurzkettigen Fettsäuren, Enzymen, Hormonen sowie antioxidativen und entzündungshemmenden Wirkstoffen versorgen. Die Darmbakterien stellen somit ein elementares Bindeglied zwischen Ernährung und Gesundheit dar.

Gesundheitsrisiko Fertigprodukte
Die Symbiose aus Mensch und Mikrobe reagiert – wie jedes andere Ökosystem auch – sehr empfindlich auf äußere Veränderungen, so auch auf den zunehmenden Konsum hoch-verarbeiteter Nahrungsmittel. Industriell hergestellte Fertigprodukte zeichnen sich durch einen hohen Gehalt an isolierten Zuckern, modifizierter Stärke, gehärteten Fetten, extrahiertem Eiweiß, Salz und zahlreichen künstlichen Zusatzstoffen aus. Gleichzeitig fehlt es der Industrienahrung an Vitaminen, Mineralstoffen, Spurenelementen sowie Ballaststoffen. Die unnatürliche Zusammensetzung der „modernen“ Nahrung sowie deren veränderte Substanzeigenschaften überfordern unsere physiologischen und biochemischen Regulationsmechanismen sowie unsere angestammte Darmflora. Es kommt zu Störungen des Zucker-, Fett- und Eiweißstoffwechsels. Die Folgen sind Adipositas, Diabetes mellitus, Leberverfettung, Bluthochdruck und Gicht. Gleichzeitig verhungern unsere Darmbakterien, weil es ihnen an artgerechter Nahrung mangelt. Nützliche Bakterienarten verschwinden und mit ihnen die zahlreichen, für uns so lebenswichtigen bioaktiven Substanzen.

Zusatz- und Schadstoffe meiden
Künstliche Süßstoffe, Antioxidantien, Emulgatoren, Konservierungsstoffe und Säuerungsmittel führen darüber hinaus zu einer weiteren Verringerung und Veränderung der Darmflora sowie einer permanenten Reizung des Darms. In der Folge verkümmert die schützende Schleimbarriere (Mukosa) und macht die Epithelschicht (Darmwand) durchlässiger für Fremdstoffe. Man spricht von einem Leaky-Gut-Syndrom. Auf dem Boden dieses „löchrigen“ Darms entwickelt sich häufig eine chronische Entzündung, die sich im weiteren Verlauf als Reizdarmsyndrom bemerkbar macht. Weitere Risikofaktoren, die eine Störung der Darmfunktion begünstigen, sind Alkohol, Nikotin, Antibiotika, Säureblocker, Umweltgifte sowie gechlortes Trinkwasser.

Von Naturvölkern lernen
Isoliert lebende Jäger-und-Sammler-Kulturen in Südamerika (Yanomami) und Afrika (Hadza) haben eine deutlich artenreichere Darmflora als Menschen in Industrienationen. Die Nahrung der beiden Naturvölker besteht überwiegend aus pflanzlicher Kost (Wurzeln, Pilze, Gemüse, Kräuter, Blätter, Blüten, Früchte, Nüsse, Samen), Vogeleiern sowie Fleisch und Innereien von Kleintieren. Insgesamt ernähren sie sich sehr ballaststoffreich. Getreide- und Milchprodukte sind ihnen unbekannt. Beide Naturvölker leiden weder an Übergewicht noch an den bei uns verbreiteten Zivilisationskrankheiten. Daraus kann man schließen, dass sich eine artenreiche Darmflora nur auf dem Boden einer natürlichen, weitgehend unverarbeiteten Nahrungsgrundlage entwickelt.

Was dem Darm guttut
Die wirkungsvollste Maßnahme zur Wiederherstellung der Darmgesundheit ist die dauerhafte Umstellung der Ernährung auf eine pflanzenbasierte Vollwertkost. Dazu gehören in erster Linie ballaststoffreiche Lebensmittel wie z. B. Vollkornprodukte, Hülsenfrüchte, Gemüse, Salate, Sprossen, Pilze, Nüsse und Samen. Fermentierte Lebensmittel, wie z. B. Sauerkraut und Naturjoghurt, mit lebenden Laktobazillen, Bifidobakterien und Hefekulturen, wirken sich ebenfalls positiv auf die Darmflora aus. In geringem Umfang können auch naturbelassene tierische Produkte in Bioqualität Bestandteil einer gesunden Mischkost sein (Fisch, Fleisch, Eier, Käse).