Die Bucht von Jiaozhou
Die Kiautschoustraße ist nach dem deutschen „Schutzgebiet Kiautschou“ (chinesisch Jiaozhou) in der Provinz Shantung in Nordchina benannt. 1897 wurde die Bucht bei der gleichnamigen chinesischen Stadt Jiaozhou von deutschen Truppen besetzt, nachdem dort zwei deutsche christliche Missionare ermordet worden waren. 1898 drängte das Deutsche Kaiserreich dem Kaiserreich China einen für 99 Jahre geltenden Pachtvertrag auf, durch den die Deutschen alle Hoheitsrechte über das Gebiet erhielten. Das kaiserliche Deutschland betrachtete es als fortan unveräußerlichen Kolonialbesitz.
In dem 560 qm2 großen „Schutzgebiet Kiautschou“ wollte die deutsche Marine eine „Musterkolonie“ errichten. Die deutsche Politik zielte darauf ab, an der Bucht einen Flotten- und Handelsstützpunkt zu errichten. Die hohen staatlichen Investitionen, die für seine Erhaltung notwendig waren, machten das „Schutzgebiet Kiautschou“ für das Deutsche Reich jedoch zu seiner teuersten Kolonie. In wirtschaftlicher Hinsicht wurde sie zu einem Fiasko.
Im Ersten Weltkrieg griff der Kriegsgegner Japan die deutsche kaiserliche Marine an und errichtete eine Seeblockade. Nach kurzen Kampfhandlungen zogen sich die deutschen Truppen im November 1914 zurück. Die Stadt Tsingtau und der restliche Teil der Kolonie wurden den japanischen Truppen übergeben. Mit dem Friedensvertrag von Versailles 1919 wurde die militärische Präsenz des Deutschen Reichs in Asien beendet. Japan gab Tsingtau 1922 formal an China zurück, behielt aber bis 1945 einen maßgeblichen Einfluss auf die Stadt.
Tsingtau – das „deutsche Hongkong“
Im Mittelpunkt des Schutzgebiets Kiautschou sollte die an Stelle eines Fischerdorfes neu errichtete Stadt Tsingtau (Qingdao) als Hauptstadt der Kolonie stehen. Tsingtau sollte zum zentralen Flottenstützpunkt des Deutschen Kaiserreichs in Asien und einer mit der britischen Kolonie Hongkong vergleichbaren Handelskolonie umgebaut werden. Von dort sollte der deutsche Einfluss auch in das Landesinnere ausgeweitet werden.
Tsingtau bestand aus einem am Meer gelegenen Stadtviertel, welches größtenteils von Deutschen und andere Europäer*innen bewohnt wurde, sowie aus einem weiteren Viertel, in dem Chines*innen lebten. Das europäische Viertel lag im klimatisch milderen Teil der Bucht von Jiaozhou.
Mit der Bebauung durch Villen und Verwaltungsgebäuden in einem altdeutschen Baustil, mit Geschäftshäusern und Fabriken in Ziegelbauweise, mit breiten Straßen und einem Kanalisationsnetz glich Tsingtau einer damals modernen deutschen Stadt. Die Verwaltung oblag der Kaiserlichen Marine. Zur Infrastruktur zählten neben dem Hafen eine 400 km lange Eisenbahnlinie in die Provinzhauptstadt Jinan, der Bau von Straßen ins Landesinnere, ein großes Aufforstungsprogramm und der Bau von Abwasser- und Trinkwasserkanalisation mit mehreren Wasserwerken.
Im deutschen Teil waren die Wohn-, Lebens- und Arbeitsbedingungen viel besser als im chinesischen Teil mit seinen Arbeitersiedlungen. Viele der in Tsingtau lebenden Chines*innen mussten Tätigkeiten in Fabriken, auf Baustellen oder bei Transportarbeiten übernehmen. Einige waren in den dortigen deutschen Privathaushalten beschäftigt.
Der „Boxerkrieg“
Um 1899 entwickelte sich in der nordchinesischen Provinz Shandong eine chinesische Aufstandsbewegung. Die Aufständischen nannten sich „yihequan“ bzw. „yihetan“, d.h. „Fäuste für Gerechtigkeit und Harmonie“ bzw. „Bewegung der Verbände für Gerechtigkeit und Harmonie“. Aufgrund ihres Kampfstils bezeichneten Europäer*innen sie als „Boxer“.
Die „Boxer“ attackierten u.a. christliche Missionare und Missionsstationen der Ordensgemeinschaft der Jesuiten, eine Glaubensgruppe der römisch-katholischen Kirche. Zudem richtete sich ihr Widerstand gegen deutsche Marinesoldaten und Zivilist*innen in der Hafenstadt Tsingtau in der nordchinesischen Bucht von Jiaozhou.
Die Proteste der „Boxer“ wuchsen durch die von Naturkatastrophen verursachten Hungersnöte, hohe Steuern und die als Willkür empfundenen Handlungen chinesischer Beamter stark an. Unterstützung erhielten die Aufständischen später durch kaiserliche chinesische Soldaten und den kaiserlich chinesischen Hof. Zu den Angriffen der „Boxer“ zählten das Niederbrennen von Kirchen oder die Zerstörung von kolonialer Infrastruktur wie Eisenbahngleise, Bahndämme und Telegrafenleitungen. Chines*innen, die zum Christentum übergetreten waren, wurden misshandelt oder ermordet.
Als die Aufständischen Peking erreichten und ein Stadtviertel belagerten, in dem sich die internationalen Botschaften befanden, begannen verschiedene Kolonialmächte gemeinsam gegen sie vorzugehen. Im August 1900 besetzten 90.000 Truppen von acht Nationen die Stadt. Neben dem deutschen Kaiserreich stellten Großbritannien, Frankreich, Österreich-Ungarn, Italien und Russland sowie das japanische Kaiserreich und die USA Soldaten.
Die Kolonialtruppen verwüsteten die Stadt, plünderten und legten ganze Viertel in Schutt und Asche. Angehörige der Armeen begingen Gräueltaten gegenüber der chinesischen Bevölkerung, wie Vergewaltigungen von Frauen und Massaker an Kriegsgefangenen und Zivilist*innen. Um nicht in die Hände der Soldaten zu fallen, verübten viele Frauen und ganze Familien Selbstmord…
Peking unter deutscher Besatzung
Es erfolgte die Besatzung Pekings. Die internationalen Interventionstruppen unterstanden dabei fast alle dem deutschen Generalfeldmarschall Alfred Graf von Waldersee (1832-1904). Die aus Freiwilligen zusammengesetzten deutschen Truppen waren mit über 22.000 Mann das größte militärische Einzelkontingent. Bei der Besetzung Pekings hatten sie zunächst eine untergeordnete Rolle gespielt. Während der Besatzung weiteten sie die Verfolgung der „Boxer“ auch auf die deutsche Kolonie an der Bucht von Jiazhou aus.
Graf Waldersee führte blutige Strafexpeditionen gegen die chinesischen Aufständischen durch, die u.a. Exekutionen, Vergewaltigungen von Frauen und Zerstörungen der Infrastruktur umfassten. Waldersee und die Truppen konnten sich der Billigung von höchster Stelle sicher sein. So hielt Wilhelm II (1859-1941), der damalige deutsche Kaiser, bei der Entsendung des deutschen Ostasiatischen Expeditionskorps in Bremerhaven eine als „Hunnen-Rede“ bezeichnete Ansprache, in der er u. a. ausführte: „Kommt ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen! Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht! Wer euch in die Hände fällt, sei euch verfallen! Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in Überlieferung und Märchen gewaltig erscheinen lässt, so möge der Name Deutscher in China auf 1000 Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, dass es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel
anzusehen!“
Durch die Einsätze der internationalen Armeen brach der Widerstand der „Boxer“ letztlich zusammen. 1901 wurde der Krieg offiziell für beendet erklärt. In einem als „Boxerprotokoll“ genannten Abkommen musste das chinesische Kaiserreich unterzeichnen, die Schuld zu übernehmen, weitere Souveränitätsrechte abzugeben und Reparationszahlungen zu leisten.