Kantorowicz, Hedwig
Buchhlg. T.
Hedwig Goldstein heiratete wieder, aber ihr zweiter Mann, der Kaufmann Max Goldstein, hinterließ keine Spuren in Berlin. Er emigrierte ohne seine Ehefrau entweder 1934 oder 1938/39 nach Argentinien und starb 1952 in Buenos Aires. Für das frühere Datum spricht, dass Ernst Kantorowicz 1934 zur Mutter in die Westfälische Straße 59 zog. Kurt, der 1938 verließ, suchte seinen Stiefvater Goldstein erst in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre, als die Berliner Entschädigungsbehörde einen Nachweis für seine alleinige Erbberechtigung verlangte. Die Ehe von Hedwig und Max Goldstein war kinderlos, auch die beiden Söhne blieben unverheiratet und hatten keine Kinder.
1938 wurde die West-Buchhandlung liquidiert. 1942, als Hedwig Goldstein immer noch unter dem Namen Kantorowicz im Adressbuch stand, musste sie als Zwangsarbeiterin bei der Firma Rappe, Ernst & Hecht in Reinickendorf arbeiten und vierdiente 36 Reichsmark wöchentlich. Der Sohn Ernst Kantorowicz verdiente im Elektroinstallationsgeschäft Theodor Körner in Friedenau damals 80 RM in der Woche. Ihre Zweizimmer-Wohnung im zweiten Stock des Hauses Westfälische Straße 59, das dem jüdischen Ehepaar Carl und Johanna Fuchs gehörte, die beide am 23. September 1942 nach Theresienstadt deportiert worden sind, kostete 88,20 RM Miete. Zuletzt mussten sich Mutter und Sohn auf ein einziges Zimmer beschränken, um das zweite für 50 RM an Sara Reimann (Sara war wahrscheinlich der ihr aufgezwungene, nicht ihr echter Vorname) unterzuvermieten.
Am 14. August 1942 wurden Mutter und Sohn von der Geheimen Staatspolizei abgeholt und in die Sammelstelle in der entweihten Synagoge Levetzowstraße in Moabit verschleppt. Tags zuvor hatten sie Vermögenserklärungen ausfüllen müssen, wonach beide fast nichts mehr besaßen. Hedwig Goldstein hatte ein Konto bei der Commerzbank mit 180 RM Guthaben.
Dieses Guthaben und die ausstehenden Löhne wurden von der Oberfinanzdirektion beansprucht und eingezogen. Das Wohnungsinventar wurde vom Obergerichtsvollzieher Karl Schneider auf 1 330 RM geschätzt und an einen Händler für 931 RM verhökert. Am 8.10.1942 wurde die Wohnung geräumt. Im November erstattete die BEWAG noch 10 RM für vorausbezahlten Strom zurück, die Gothaer Feuerversicherung forderte nachträglich von der Oberfinanzverwaltung eine Prämie mit dem Hinweis: „Die Versicherungsnehmerin ist unbekannt verzogen.“ Und noch im März 1943 meldete sich das Finanzamt Wilmersdorf und verlangte von Ernst Kantorowicz 10 RM Vermögenssteuer plus 2 RM Vollstreckungsgebühr, was von der übergeordneten an die nachgeordnete Behörde beglichen wurde. Selbst diese allerletzte Gewinn- und Verlustrechnung bei der vollständigen Entrechtung und Ausraubung der deutschen Juden war im zuletzt 1941 novellierten „Reichsbürgergesetz“ geregelt worden.
Am 15. August 1942 sind Hedwig Goldstein und Ernst Kantorowicz zu Fuß aus Moabit durch bewohnte Straßen nach Grunewald und dort am Gleis 17 mit über 1 000 anderen Verfolgten in die überfüllten Güterwagen getrieben worden. Drei Tage später wurden sie nach der Ankunft in den Wäldern um Riga erschossen.
1952 begann der Sohn Kurt Kent von Detroit aus einen neun Jahre dauernden Kampf mit der Berliner Entschädigungsbehörde um wenigstens bescheidene „Wiedergutmachung“. Nach immer neuen zeitraubenden Verzögerungen durch die bundesdeutsche Bürokratie, Wiederholungen seiner Ansprüche durch wechselnde Rechtsanwälte, Infragestellung seiner Erbberechtigung, bis schließlich die letzten Nachweise den zuständigen Ämtern vorlagen, wurden ihm 1961 endlich „für Freiheitsberaubung und Verlust des Lebens der Mutter“ 6 450 DM und für den Raub von Vermögen und Hausrat 11 615 DM zugestanden. Anfragen und Forderungen für den Tod seines Bruders Ernst durch den staatlichen NS-Terror wurden abgelehnt.
Sara Reimann, die mit Kantorowicz‘ „auswandern“ sollte, wie die Deportation in der NS-Sprache amtlich genannt wurde, ist offenbar mit dem Leben davongekommen. Ihr Schicksal scheint sich in der Nacht, bevor sie abgeholt werden sollte, gewendet zu haben: Vielleicht konnte sie flüchten oder versteckt überleben, jedenfalls stand sie auf keiner Deportationsliste.
Recherchen und Text: Gisela Gantzel-Kress und Helmut Lölhöffel
Quellen: Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam; Entschädigungsbehörde im Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten Berlin; Berliner Adressbücher 1896 bis 1942; Humboldt-Universität zu Berlin: Jüdische Gewerbebetriebe in Berlin 1930-1945