bq. Meine Damen und Herren, ich begrüße Sie im Namen der Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses Duisburger Str. 1 / Konstanzer Str. 4, an dessen Ecke wir hier stehen.
Wir freuen uns über die zahlreiche Teilnahme, insbesondere auch der Bürgermeisterin unseres Bezirks Charlottenburg-Wilmersdorf, Frau Monika Thiemen und des früheren Regierenden Bürgermeisters von Berlin und deutschen Botschafters in Israel, Klaus Schütz.
Ich wünsche uns ausdrücklich einen guten Tag, und ich denke auch: wir haben einen guten Tag heute; damit meine ich nicht nur das schöne frühlingshafte Wetter. Ich meine damit vor allem: ein guter Tag ist der, an dem wir vor diesen Stolpersteinen hier stehen; dass nämlich unsere Hausgemeinschaft diese Stolpersteine auf den Wege gebracht hat, und dass wir damit die Erinnerung an diejenigen Mitbürgerinnnen und Mitbürger manifestieren und öffentlich machen können, die in Deutschland wegen ihres jüdischen Glaubens zu Tode gekommen sind, und die – in diesem Fall – im Mai1939 in unserem Haus ihren letzten selbständigen Wohnsitz hatten.
So viele Stolpersteine vor einem Haus
Diese Erinnerungs-Aktion hier begann einmal mit dem Wissen um 1 solchen Fall von Verfolgung und Ermordung. Schließlich sind es 20 Stolpersteine geworden, die deshalb hier nun liegen. Davon allein 14 für den Hausteil Duisburger Str.1, der eigentlich nur 7 Wohnungen hatte. Das sind erstaunlich viele. Und doch sind z.B. für das Haus Duisburger Str. 6 sogar 32 Menschen nachgewiesen, die später deportiert und ermordet wurden.
War die Duisburger Str. 1 das bereits, was Nazi-Deutschland als “Judenhäuser” installiert hatte? Nein, die wurden später eingerichtet.
Für die Überbelegung unseres Hauses ist folgendes zu bedenken:
Mit Wirkung vom 30. April 1939 war das neue “Gesetz über Mietverhältnisse von Juden” in Kraft getreten. Seine Regelungen waren darauf gerichtet, Juden den Mieterschutz zu verwehren, ihre Kündigung und die Räumung ihrer Wohnungen zu erleichtern und auch Zwangseinmietungen anderer Juden zu ermöglichen.
Und speziell für Berlin kam bereits seit 1938 noch etwas weiteres hinzu: hier sollte möglichst viel Wohnraum für diejenigen nicht-jüdischen Mieter verfügbar gemacht werden, die der Neuplanung für die Reichshauptstadt “Germania” weichen sollten. Dafür wurden ersatzweise Ansiedlungsgebiete ausgewiesen und als “judenreine Gebiete” deklariert. Und um sie dazu zu machen, gab es eine “Verordnung über die Neugestaltung der Reichshauptstadt Berlin und der Hauptstadt der Bewegung München” (v. 8. Februar 1939); sie ermöglichte die Exmittierung speziell der jüdischen Mieter. “Albert Speers Wohnungsmarktpolitik für den Berliner Hauptstadtbau” bevorzugte dafür große Altbauwohnungen – sie waren auch von Juden bewohnt und lagen in den westlichen Bezirken Berlins. Eine entsprechende Karte “judenreiner Gebiete” für Charlottenburg und Wilmersdorf umfasst das Gebiet rund um den Kurfürstendamm zwischen Fasanenstraße
und Dahlmannstraße und im Süden bis zur Xantener Straße.
Diese beiden Strategien bewirkten, zumal zusammen, auf jeden Fall eine forcierte Wohnungsnot der jüdischen Bevölkerung Berlins. Die Duisburger Straße war noch nicht als “judenreines Gebiet” deklariert – umso mehr war sie ein Auffanggebiet für jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger, die anderswo vertrieben wurden.
Auf diesem Hintergrund muß es nicht verwundern, daß in einem relativ kleinen Haus wie der Duisburger Str. 1 insgesamt 14 jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger lebten. Wir haben es also keineswegs mit einem “Judenhaus” zu tun, sondern mit der damals erzeugten “Normalität” des Wohnens jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger in Berlin:
20faches Erinnern
Und das erklärt uns auch, warum wir hier nun vor so besonders vielen Stolpersteinen hier stehen.
Sie erinnern an die folgenden Mitbürgerinnen und Mitbürger:
Verlesung der 20 Namen
“Hier wohnte:
Ida Awner,
Wanda Frank,
Elly Herzog,
Edith Hoffmann,
Günter Hoffmann,
Leo Hoffmann,
Margarete Hoffmann,
Else Ella Noher,
Erna Eva Schein,
Ernst Schein,
Günther Schein,
Selma Schein,
Siegmund Schneller,
Sara Schwersenz,
Alice Bromberg,
Ernst Bromberg,
Else Brombert,
Max Pollack,
Johanna Sechehaye,
Paula Sommerfeldt.
und Niederlegung je einer roten Rose
Wir erinnern damit also an das tödliche Geschehen, das Mitbürgerinnen und Mitbürger damals in Wilmersdorf-Charlottenburg erleiden mussten. Wir wirken mit an einer Erinnerungs-Kultur dieses Stadtbezirks.
Was wir über die diese Menschen wissen
Die Stolpersteine informieren uns über die 20 Mitbürgerinnen und Mitbürger anhand wesentlicher “Eckdaten” ihres Lebens, wie: Geburts-Jahr und -Ort / Zeit und Ort der Deportation und der Ermordung. Das sind erst einmal sehr nüchterne Informationen. Wir erfahren wenig über die Menschen selbst, an die hier erinnert wird.
Immerhin wissen wir, daß oft ganze Familien hier wohnten und betroffen waren, wie z.B. in der Konstanzer Str. 4:
Else Bromberg mit ihren Eltern Ernst und Alice Bromberg bzw.
in der Duisburger Sr. 1:
die Schwestern Wanda Frank und Ida Awner, aber auch
die Geschwister Eva Schein und Günter Schein mit ihren Eltern Ernst und Selma Schein und deren Schwester Else Ella Noher, und
Edith und Günter Hoffmann und dessen Eltern Leo und Margarete Hoffmann.
Und dennoch wissen wir leider zu wenig darüber, wer sie waren, wenn wir nämlich fragen: was waren ihre Lebensumstände? z.B. familiär, beruflich, sozial oder kulturell – oder auch: wie sind sie mit der Verfolgung umgegangen? Es befriedigt überhaupt nicht, darüber kaum etwas zu wissen. Möglichkeiten, zu recherchieren, sind noch zu wenig genutzt.
Immerhin hat sich folgendes z.B. schon ergeben:
Die meisten wohnten hier erst kurze Zeit nur im Mai 1939; denn anderswo in Berlin hatten sie ihre eigentlichen und größeren Wohnungen bereits verloren.
Viele waren von Beruf “Kaufmann”; in Wirklichkeit aber waren sie Inhaber von Konsumgüter-Großhandlungen gewesen – mit Sitz rund um die Spandauer Straße, der klassischen historischen Gegend jüdischer Handelshäuser.
Und von Leo Hoffmann wissen wir, daß er ehrenamtlicher Schatzmeister der Jüdischen Gemeinde Berlin war.
In 1 Fall aber konnten wir in Kontakt kommen mit Hinterbliebenen, und zwar von
Johanna Hilda Sechehaye.
Sie wurde am 27. April 1942 ermordet – also morgen vor 66 Jahren.
Ihr möchte ich unsere Erinnerung heute insbesondere widmen.
Wer war Johanna Hilda Sechehaye? Wie ist ihr Leben verlaufen?
Johanna Hilda Sechehaye wird geboren am 08.April 1897 in Augsburg -
als zweite Tochter von Karl Schwarz (1857-1926) und Anna Schwarz (1870-1939), geb. Rosenmayer – wächst dort auf zusammen mit ihrer älteren Schwester Emmy (1895-1970/USA)(verh. m Martin Cohn bzw. m. Kurt Glaser) und ihrer jüngeren Schwester Charlotte (1904-1942/Ravensbrück-Bernburg)(verh. m. Wilhelm Eckart)(für die Tochter Gabriele verliert sich mit 6 Jahren jede Spur) – graduiert in Mathematik, Ökonomie und Philosophie – heiratet Emil Josef Karl Sechehaye (in den 1920er Jahren in München und Berlin bekannter Graphiker / Josef Seche) – bringt am 19. Dezember 1924 ihren Sohn René zur Welt – übersiedelt mit ihrer Familie 1928 nach Berlin – arbeitet in einem Ingenieurbüro (bzw. Architekturbüro) – trennt sich unter beginnenden antijüdischen Kampagnen 1930 von ihrem nichtjüdischen Mann.
Johanna Hilda Sechehaye bringt ihren Sohn 1936 in ein Internat nach Zagreb (nach gewaltsamer Rückführung 1944 nach Deutschland und Emigration nach Skandinavien konnte er schließlich )(?12.02.2000 in Augsburg) – sie versucht in Mailand, eine Auswanderungs-Möglichkeit zu ihrer Schwester Emmy zu finden – kehrt erfolglos nach Berlin zurück – verliert am 20.September 1939 ihre Mutter, die sich am Vorabend ihrer Deportation das Leben nimmt.
Johanna Hilda Sechehaye ist polizeilich zuletzt wohnhaft gemeldet im Haus Konstanzer Str. 4 – wird im Frühjahr 1941 polizeilich festgesetzt – schreibt (am 31. März 1941) an einen Gewährsmann (wohl ihr Rechtsanwalt) mit der Bitte um ein paar alltägliche Dinge im Hinblick auf einen “Transport”, den sie für den 5. April erwartet.
Johanna Hilda Sechehaye wird 1942 nach Ravensbrück deportiert – wird im April 1942 in das Tötungslager Bernburg a.d.Saale verlegt und dort am 27. April 1942 ermordet.
In dem erwähnten Brief beschreibt sie die kleinen persönlichen Dinge, um die sie bittet, vor allem danach, wo sie in ihrer Wohnung zu finden sind: damit führt sie uns durch die Wohnung, die sie in der Konstanzer Str. 4 hatte (wir wissen nicht, welche es war) und die sie unter polizeilichem Zwang verlassen musste.
Was aber bedeutete es nun praktisch, wenn wir davon sprechen, sie wurde – wie alle anderen – “deportiert”?
Zum Schluß bleibt unser Dank, dass Sie sich haben ansprechen lassen für diese Stolpersteine.
Sie liegen hier zunächst zur Erinnerung an die jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, die in 1939 in unserem Haus gewohnt haben und später deportiert und ermordet wurden.
Sie liegen hier auch als Ausdruck von Verantwortung für begangenes Leid in deutschem Namen, als Bekenntnis begangenen Unrechts.
Insbesondere liegen sie hier aber als Mahnung, daß auch nur annähernd ähnliches nie wieder und nirgendwo geschehen darf.
Diese 20 Stolpersteine sind hier nun verlegt, und wir haben sie der Öffentlichkeit unseres Gemeinwesens übergeben. Damit aber beginnt das Engagement auch erst wieder:
Nämlich dazu beizutragen, jedem Anfang von Unrecht zu wehren und Zivilcourage – zumal gegen Diskriminierung – als erste Bürgerpflicht zu üben.
Und es bleibt, die Recherchen zu vertiefen, wer diese 20 Menschen waren.
Für alles bitte ich um gemeinsames Engagement.