Rede der Bezirksbürgermeisterin Monika Thiemen zum Festakt "100 Jahre Stadtrechte Wilmersdorf" am 20.8.2006 im Rathaus Wilmersdorf

Rede der Bezirksbürgermeisterin Monika Thiemen

zum Festakt "100 Jahre Stadtrechte Wilmersdorf"

am 20.8.2006, um 11.00 Uhr im Rathaus Wilmersdorf

Sehr geehrter Herr von der Lancken!
Sehr geehrte Gäste aus unseren Partnerstädten!
Sehr geehrte Damen und Herren!

Was ist das für ein Jubiläum, das wir heute feiern? Heute vor genau 100 Jahren erhielt Wilmersdorf Stadtrechte: ein Ort, der viel älter ist als 100 Jahre; eine Stadt, die nur 14 Jahre lang als selbständige Stadt existierte. Seit 5 Jahren existiert Wilmersdorf nicht einmal mehr als eigenständiger Berliner Bezirk. Er wurde zusammengelegt mit Charlottenburg.
Das Rathaus, in dem wir heute feiern, wurde erst 1954 zum Rathaus Wilmersdorf. Gebaut wurde es als Verwaltungsgebäude in der Zeit des Nationalsozialismus, und nach dem Krieg diente des zunächst den Briten als Berliner Hauptquartier.
Was also haben wir heute zu feiern? Ist es mehr als ein flüchtiges Datum, der 20. August 1906, an dem Wilmersdorf die Stadtrechte verliehen wurden, die so schnell wieder verloren gingen?
Ich denke, es ist mehr. Die Entwicklung Wilmersdorfs zur Großstadt hatte ja bereits um 1885 begonnen, und mit der Verleihung der Stadtrechte wurde nur ein Prozess formal beurkundet, der real längst vollzogen war. Und in diesen gut 30 Jahren vor dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich Wilmersdorf zu dem, was es bis heute geblieben ist: ein liebens- und lebenswerter City-Wohnort im Westen Berlins. Die Grundlagen wurden damals gelegt, von denen wir bis heute zehren: Das Straßennetz, die vielen Plätze und Parks, die meisten Schulen und Kirchen, S- und U-Bahn, der Kurfürstendamm als Großstadtboulevard, die gut bürgerlichen Mietshäuser im innerstädtischen Bereich und die ebenso gut bürgerliche Rheingau-Siedlung rund um den Rüdesheimer Platz außerhalb des S-Bahn-Ringes. All dies und vieles mehr wurde geschaffen in diesen Jahren der rasanten Entwicklung Wilmersdorfs vom Dorf zur Großstadt. Auch wenn im Zweiten Weltkrieg vieles zerstört und danach manches nicht unbedingt zum Vorteil Wilmersdorfs neu gebaut wurde, so ist doch die damals geschaffene Grundstruktur erhalten geblieben, und vieles, was uns heute besonders am Herzen liegt und erfreut, konnten wir in den letzten 20 Jahren nach dem historischen Vorbild in alter Schönheit wieder rekonstruieren: Den Nikolsburger Platz mit dem Gänselieselbrunnen und der Cäcilien-Grundschule, den Ludwigkirchplatz mit der Kirche St. Ludwig, den Prager Platz mit der Fontäne in der Mitte und einer modernen Bebauung, die aber doch in ihren Proportionen der alten Platzgestalt entspricht.
Wenn wir also heute die Verleihung der Stadtrechte vor 100 Jahren feiern, dann feiern wir vor allem den Beginn der Entwicklung Wilmersdorfs zu einem besonders schönen Teil von Berlin.
Wenn Sie die Farben der Wilmersdorfer Fahne und die Lilien im Wilmersdorfer Wappen an Frankreich erinnern, dann liegen Sie nicht falsch. Nach einer Legende soll ein Ritter “derer von Wilmerstorf” König Ludwig IX. bei seinem ersten Kreuzzug zwischen 1248 und 1254 in der Schlacht von Damiette in Ägypten das Leben gerettet haben. Zur Belohnung soll er den Wappenschild des Königs mit den drei Lilien erhalten haben. Auch wenn das französische Königswappen der Bourbonen erst seit dem 15. Jahrhundert drei goldene Lilien im blauen Felde zeigt, so steht doch fest: Das Rittergeschlecht “derer von Wilmerstorf”, das seit dem sechzehnten Jahrhundert in Wilmersdorf und Schmargendorf ansässig war und Land besaß, führte das Lilienwappen, und die Großstadt Deutsch-Wilmersdorf übernahm es 1906 als ihr Stadtwappen. In der Fassung mit der Mauerkrone und dem Berliner Bären wurde es dem Bezirk Berlin-Wilmersdorf durch Senatsbeschluss vom 3.10.1955 verliehen. Der Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf hat 2001 die Wilmersdorfer Lilien in die obere Hälfte seines Wappens übernommen.
Im Jahr 1293 wurde “Wilmerstorff” erstmals urkundlich erwähnt, und zwar in einem von Markgraf Albrecht III. von Brandenburg ausgestellten Dokument. Im Jahr der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 zählte Wilmersdorf 1700 Einwohner. Es war noch immer ein verträumtes Dorf, weit ab von Berlin. Inzwischen hatten sich zwar einige Großstädter hier angesiedelt, aber vor allem deshalb, weil sie die dörfliche Idylle schätzten und Abstand von der Großstadt Berlin gewinnen wollten. Allerdings war für die Stadtplaner klar, dass Berlin sich als neue Hauptstadt des Kaiserreichs noch schneller ausdehnen würde als zuvor, und zwar vor allem nach Westen, nach Charlottenburg, Schöneberg und eben auch nach Wilmersdorf. Johann Anton Wilhelm von Carstenn formulierte dies bereits 1869 in einem Brief an den damaligen preußischen König und späteren Deutschen Kaiser Wilhelm I. so: “Majestät, Berlin ist zur ersten Stadt des Kontinents berufen, und was seine räumliche Ausdehnung anbelangt, so muß Berlin und Potsdam eine Stadt werden, verbunden durch den Grunewald als Park.”
Ganz so ist es zwar nicht gekommen, und Carstenn verschätzte sich nicht nur mit Potsdam ein wenig, sondern auch mit der Zeit. Er kam einige Jahre zu früh. Er kaufte riesige Ländereien in Wilmersdorf und ließ ein umfangreiches Netz von Straßen und Plätzen rund um die damalige Kaiserallee, die heutige Bundesallee anlegen, wo er eine Landhaussiedlung nach dem Vorbild Lichterfeldes schaffen wollte. Aber wie so oft folgte auf den großen Gründungsboom von 1871 zunächst eine ernüchternde Rezession, in der Carstenn Konkurs anmelden musste. Um 1885 begann aber dann die Bebauung, die sich mit rapider Geschwindigkeit auf fast die gesamte Wilmersdorfer Fläche ausdehnte. Statt einer Landhaussiedlung entstanden nun fünfgeschossige Mietshäuser. Innerhalb weniger Jahre wuchs Wilmersdorf von einem kleinen Ort mit knapp 5.000 Seelen zu einer Stadt mit über 75.000 Einwohnern im Jahr 1906, in dem es Stadtrechte erhielt. 1910 hatte es bereits mehr als 100.000 Einwohner. Wie die anderen Großstädte im Berliner Westen – Spandau, Charlottenburg und Schöneberg – wehrte sich Wilmersdorf gegen die Eingemeindung nach Groß-Berlin, die nach dem Ersten Weltkrieg 1920 schließlich doch vollzogen wurde.
Ein Mann hat die Entwicklung Wilmersdorfs zur Großstadt maßgeblich mit geprägt und gestaltet: Ernst Habermann. 1866 in Nordhausen geboren, kam er 1896 als juristischer Assistent in die Wilmersdorfer Gemeindeverwaltung und übernahm bereits ein Jahr später, 1897, als Amts- und Gemeindevorsteher ihre Leitung. Nach der Verleihung der Stadtrechte wurde er am 1. Juli 1907 zum ersten und einzigen Bürgermeister von Wilmersdorf gewählt. Wiederum zwei Jahre später war die Bevölkerungszahl von Wilmersdorf auf 100.000 gestiegen, und am 5. Oktober 1909 erhielt Habermann den Titel Oberbürgermeister, den er bis zur Eingemeindung Wilmersdorfs nach Berlin im Jahre 1920 trug.
Von 1920 bis 1933 arbeitete er als unbesoldeter Stadtrat weiter für den Bezirk Wilmersdorf. An seinem 90. Geburtstag 1956 erhielt er wegen seiner Verdienste um die Kommunalpolitik den Berliner Ehrentitel “Stadtältester”. Zwei Jahre später, am 6. Juni 1958, starb er in seiner Geburtsstadt Nordhausen.
In einem 1913 erschienen Buch über die Stadt Wilmersdorf und die Leistungen ihrer Verwaltung hat Ernst Habermann ihre Entwicklung so zusammengefasst:
“Die heute rund 133.000 Einwohner zählende Stadtgemeinde Berlin-Wilmersdorf – zur Unterscheidung von dem im Kreise Teltow belegenen Wendisch-Wilmersdorf lange Zeit hindurch Deutsch-Wilmersdord genannt – ist die drittgrößte unter den der Reichshauptstadt im Westen vorgelagerten Gemeinden. Obgleich schon seit Jahren einer der beliebtesten Wohnplätze innerhalb Groß Berlins, ist der Ort bis Ende 1910, als er mit 109.716 Einwohnern in die Reihe der deutschen Großstädte eintrat, über das Weichbild Groß Berlins hinaus verhältnismäßig wenig bekannt gewesen. Das freilich erscheint nicht allzu verwunderlich, wenn man bedenkt, daß Wilmersdorf noch Mitte der 80er Jahre ein vom Verkehr ziemlich abgelegenes, bescheidenes Bauern- und Kossätendorf war, um dessen wenige strohgedeckte Dächer in weitem Umkreis fast nur unfruchtbares Bruch- und Heideland sich erstreckte. So umfaßt der Aufstieg Wilmersdorfs vom Dorfe zur Großstadt rund 25 Jahre, das heißt einen Zeitraum, wie er für das Entstehen städtischer Siedelungen, in Deutschland wenigstens, als beispiellos gelten darf.
Im Westen nach dem von keinerlei industriellen Anlagen unterbrochenen, ausgedehnten Wald- und Seengebiet des Grunewalds sich öffnend, bildet der Ort in unmittelbarem Anschluß an Charlottenburg und Berlin-Schöneberg die Fortsetzung von Berlin-W, das heißt demjenigen Teil Berlins, der der Zusammensetzung seiner Bevölkerung wie seinem Stadtbildcharakter nach als die bevorzugteste Gegend der Reichshauptstadt anzusehen ist. Eine Weiterentwicklung in diesem Sinne mußte mithin in westlicher Richtung erfolgen. Damit aber war der Gemeinde Wilmersdorf das Ziel ihrer Entwicklung vorgezeichnet. Um dieses aber auch zu erreichen, und zwar in möglichst kurzer Zeit, mußte die Dorfgemeinde Wilmersdorf darauf bedacht sein, den günstigen Bedingungen ihrer Lage diejenigen örtlichen Bedingungen hinzuzufügen, die für die Gewinnung eines großstädtischen, wohlhabenden Zuzuges als unerläßlich gelten mußten. Das heißt, es mußten außer den Voraussetzungen für das Entstehen breiter, vornehmer Wohnstraßen, als da sind die Aufstellung eines großzügigen Bebauungsplanes, moderne Kanalisations- und Beleuchtungsverhältnisse usw., befriedigende Verkehrsverbindungen, vollkommene Feuerschutzeinrichtungen, Park- und Gartenanlagen, nicht zuletzt aber auch den gesteigerten Ansprüchen eines steuerkräftigen Publikums in jeder Beziehung Rechnung tragende Anstalten zur Erziehung und Bildung der Jugend geschaffen werden.”
Soweit das Programm von Oberbürgermeister Ernst Habermann, das zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Textes weitgehend abgeschlossen war. Ein Jahr später, 1914, begann der Erste Weltkrieg, der auch für Wilmersdorf die Entwicklung unterbrach. Ein großes neues Rathaus, dessen Planung nach zwei Wettbewerben abgeschlossen war, konnte nicht mehr gebaut werden. Es sollte am Preußenpark, dort wo heute das Parkcafé ist, stehen. Der Turm sollte noch höher werden als der Turm vom Rathaus Schöneberg. Aber nach dem Ersten Weltkrieg und der Eingemeindung nach Groß-Berlin 1920 gab es dafür keine Möglichkeit mehr. Deshalb musste Wilmersdorf sich mit Provisorien behelfen, bis die Bezirksverwaltung 1954 in dieses Haus einziehen konnte.
1920 wurde Wilmersdorf zusammen mit den selbständigen Landgemeinden Schmargendorf und Grunewald und dem Grunewald-Forst zum 9. Bezirk von Groß-Berlin. Später, im Jahr 1936 wurde dann der Grunewald zwischen Wilmersdorf und Zehlendorf aufgeteilt, so dass das Strandbad Wannsee nach Zehlendorf kam.
In den 20er Jahren wurde Wilmersdorf zum beliebten, citynahen Wohnbezirk. Vor allem außerhalb des S-Bahn-Ringes wurden die Siedlungsgebiete in Schmargendorf und im rheinischen Viertel am Südwestkorso weiter ausgebaut. Viele bedeutende Persönlichkeiten zogen nach Wilmersdorf, Prominente aus Wissenschaft, Kultur, Wirtschaft und Politik. In Wilmersdorf war der Anteil der jüdischen Bevölkerung von allen Berliner Bezirken am höchsten: 1933 waren es mehr als 26.000 jüdische Bürgerinnen und Bürger und damit 13,5 Prozent von fast 200.000 in Wilmersdorf. Zwei große Synagogen entstanden in der Prinzregentenstraße in Wilmersdorf und in der Markgraf-Albrecht-Straße in Halensee. Wenn irgendwo von einer deutsch-jüdischen Symbiose gesprochen werden konnte, dann hier in Wilmersdorf.
Die Nationalsozialisten schafften die kommunale Demokratie ab, vertrieben oder deportierten und ermordeten die jüdischen Bürgerinnen und Bürger und brachten mit dem Zweiten Weltkrieg Leid und Zerstörung. Außer einigen Verwaltungsgebäuden, vor allem rund um den Fehrbelliner Platz, haben sie nichts Bleibendes hinterlassen.
In der Nachkriegszeit wurde manches wieder aufgebaut, vieles abgerissen und neu gebaut, in den ersten Jahrzehnten oft nach dem Leitbild der autogerechten Stadt. Seit den 80er Jahren gehen wir bewusster und behutsamer mit der Geschichte um. Wir haben Erinnerungsstätten wie den Bahnhof Grunewald geschaffen, erinnern mit vielen Gedenktafeln an bedeutende Wilmersdorferinnen und Wilmersdorfer, und wir haben viele öffentliche Plätze und Gebäude nach dem historischen Vorbild rekonstruiert.
Der Name Wilmersdorf war im Mittelalter besonders häufig. Wir finden ihn allein in Brandenburg achtmal. Er leitet sich vom männlichen Namen Wilhelm ab, den besonders viele Ritter trugen. Die Fusion von Wilmersdorf mit Charlottenburg am 1. Januar 2001 war so gesehen eine Liebeshochzeit zwischen Ritter Wilhelm und Königin Charlotte. Ich denke, inzwischen hat sich herausgestellt, dass die Ehe gut funktioniert. Charlottenburg-Wilmersdorf ist ein Bezirk, der die Vorzüge beider Teile kombiniert und zur Attraktivität Berlins besonders viel beizutragen hat.
Wir feiern heute das 100jährige Jubiläum der Verleihung der Stadtrechte an Wilmersdorf, weil die Stadt Wilmersdorf die Grundlagen geschaffen hat, die uns im heutigen Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf zugute kommen. Wir haben der Stadt Wilmersdorf bis heute viel zu verdanken.

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