Ein Stückchen Deutschland in der Amsterdamer Schubertstraat

Kuchen und Torten nach alten Familienrezepten dürfen bei den Treffen der KKG natürlich nicht fehlen

Kuchen und Torten nach alten Familienrezepten dürfen bei den Treffen der KKG natürlich nicht fehlen

In Amsterdam treffen sich regelmäßig Nachkommen von deutsch-jüdischen Exilflüchtlingen zu Kaffee, Kuchen und zum Austausch über Themen, die sie gemeinsam bewegen. Seit Jahren dabei ist „aktuell“-Leserin Truusje Vrooland-Löb, die uns die Runde einmal näher vorstellt.

Von Truusje Vrooland-Löb, Amsterdam, Niederlande

Die Treffen finden im Wohnzimmer von Initiator Jack Weil in der Amsterdamer Schubertstraat statt

Die Treffen finden im Wohnzimmer von Initiator Jack Weil in der Amsterdamer Schubertstraat statt

Ob ich auch einmal zu einem Treffen seiner „Kaffee-und-Kuchen-Gesellschaft“ (KKG) zu ihm nach Hause kommen wolle, fragte mich mein alter Studienkollege Jack Weil vor ein paar Jahren, als wir uns im großartigen Singer Museum in Laren trafen. Ja, das schien mir eine gute Idee zu sein! Denn er sagte mir, dass dies ein Treffen mit reichlich deutschem Kuchen und einem dazu passenden Vortrag für alle Kinder von deutsch-jüdischen Exilflüchtlingen sein würde, für Kinder von Menschen also, die vor dem Krieg in die Niederlande ausgewandert waren. So ein Kind bin auch ich – mein Vater Kurt Löb wurde in Berlin geboren (vgl. „aktuell“ Nr. 105).

Neugierig geworden, radelte ich eines Sonntagnachmittags zu Jack. Etwas überrascht war ich zunächst, in seinem geräumigen Wohnzimmer in der Schubertstraat keine jungen Leute, sondern ausschließlich ergraute Häupter vorzufinden. Die Kinder der Exilanten waren – genau wie ich, die ich damit überhaupt nicht gerechnet hatte – alle mindestens siebzig Jahre alt oder älter, also junge Ältere. Die Stimmung war sofort gut, der Vortrag von Ex-Minister Hirsch Ballin über die Bedeutung des Erhalts oder Verlusts der Staatsbürgerschaft sehr interessant, und die selbstgebackenen Kuchen waren köstlich. Vor Ort bekam ich auch einen unvergesslichen Kontakt mit der Mutter der Frau, die am nächsten Tag mein Elternhaus in Amsterdam kaufen würde! Wodurch wir am Ende sogar noch eine wunderbare „Mischpoke“ in der Straße dazubekommen haben, denn ich wohne nur zehn Meter von meinem ehemaligen Elternhaus entfernt und schätze deshalb auch die Nachbarschaft dieser reizenden jungen Familie in diesem für mich besonderen Haus. Und das verdanke ich diesem ersten Besuch bei „Kaffee und Kuchen“!

Was genau ist nun die KKG?

Es ist eine private Wohnzimmergesellschaft, ein Netzwerk von ca. 30 Leuten, die sich drei- bis viermal im Jahr zu einem Vortrag über ein deutsch-jüdisches Thema treffen, und diesen mit Kaffee und selbstgebackenem Apfelstrudel, Käsetorte nach Mutters oder Großmutters Rezept abrunden – oder mit Zwetschgenkuchen nach Vaters Rezept zum Geburtstag seiner Mutter Ruth, wie ihn unser Gastgeber Jack regelmäßig backt. Dazu gibt es hinterher deutschen Wein. Der Eintritt zu diesem Salon ist frei, abgesehen davon, dass jeder etwas Leckeres mitbringen sollte.

Die Rednerinnen und Redner werden mit einer importierten Flasche Sekt aus dem rheinland-pfälzischen Meisenheim, der Heimat von Jacks Vater Hugo Weil, honoriert. Und sie können sich wirklich sehen lassen: Den Auftakt machte 2014 zum Beispiel der niederländische Starautor Arnon Grünberg („Blauer Montag“, „Phantomschmerz“, „Der Jüdische Messias“, „Muttermale“, „Tirza“ etc.), der anschließend über den deutsch-kulturellen Einfluss seiner Berliner Eltern auf ihn und seine Autorenschaft sprach. Andere Redner sprachen über Themen wie die deutschen Kinder im Versteck (Mirjam Keesing), über Flüchtlinge und die Verbindung zu sich selbst (Marjan Sax), Jacques Klöters über die deutsch-jüdischen Kabarettisten und der ehemalige Museumsdirektor des Joods Cultureel Kwartier (Jüdisches Kulturviertel) Joël Cahen über den Maler Max Liebermann. Und nach der langen Covid-Pause informierte uns Dr. Marieke Oprel (Dissertation: The Burden of Nationality) über die „Entfeindung“, eine weitgehend unbekannte Geschichte über das schmerzhafte Verfahren, das ehemalige Deutsche in den Niederlanden durchlaufen mussten, um einen offiziellen Platz in unserer Gesellschaft zu erhalten. Darunter befanden sich zum Beispiel die vielen Tausend Dienstmädchen, Geschäftsleute, aber auch jüdische Flüchtlinge, die seit 1940 in den Niederlanden geblieben waren. Alle wurden nach dem Krieg kollektiv als „Feinde“ bezeichnet, bis das Gegenteil bewiesen wurde. Und das galt sogar für diejenigen, die aus den Lagern zurückkehrten! Ein schmerzhafter Prozess, den viele unserer Eltern durchgemacht haben …

Jack Weil

Jack Weil

Aber wie kam diese besondere private Gesellschaft überhaupt zustande?

Der Initiator Jack Weil: „Einmal lag ich im Bett und dachte darüber nach, dass ich mit dem Einfluss der deutschen Sprache und Kultur, die ich von zu Hause geerbt habe, doch noch etwas machen sollte, weil die Zeit dafür jetzt reif sei. Und dass ich damit nicht allein wäre, denn es standen noch einige andere mit demselben Hintergrund in meinem Adressbuch, Menschen, die genau wie ich mit Kaffeeklatsch, Streuselkuchen, Oberländer und Wiener Würstchen aufgewachsen waren. Nach einem Interview mit Marianne Fuchs in der jüdischen Zeitschrift Benjamin (das kostenlose vierteljährliche Magazin für die jüdischen Niederlande) nahm die Organisation dann richtig an Fahrt auf.“

In diesem Blatt erzählte Jack ihr, der späteren begeisterten Besucherin seines Salons: „Nach Jahren der Feindseligkeit gegenüber der deutschen Kultur ist sie wieder salonfähig geworden. In den 1950er und 1960er Jahren konnte man mit seiner deutschen Herkunft so kurz nach dem Krieg nicht viel anfangen. Die deutsche Kultur war ein No-Go, und die Deutschen waren im Unrecht. Ich hatte immer eine Hassliebe zur deutschen Kultur, der Kultur, die ich von zu Hause geerbt hatte und die innerhalb unserer vier Wände stattfand. Meine Eltern pflegten nur den Umgang mit deutschen Juden. Meine ehemals aus Berlin stammende Mutter Ruth Reich hatte einen starken Akzent und mein Vater machte die merkwürdigsten Fehler in der niederländischen Sprache. Ich habe dann mit einer Reihe von Leuten mit demselben Hintergrund gesprochen, denn es sollte eine Art von Gesellschaft sein, der man angehören kann, ohne jedoch Mitglied sein zu müssen. Unsere Verbindung ist natürlich die gemeinsame Geschichte, die deutsche Kultur sowie das Essen und Trinken. So wurde die Idee eines Salons für die Kinder deutsch-jüdischer Flüchtlinge geboren.“

„Was bedeuten dir diese Treffen?“ – Ich frage einige der Stammgäste wie meine ehemalige Bibliothekskollegin Pauline, meinen Cousin zweiten Grades Polly und meinen engen Jugendfreund Will.

Pauline Friedheim

Pauline Friedheim

Pauline Friedheim: „Ich bin eher zufällig dazugekommen, weil mich eine Freundin mitgenommen hatte. Ich habe auch deutsche Wurzeln, obwohl mir das nie so richtig bewusst war. Ich hasste nämlich unseren deutschen Nachnamen, den mein Deutschlehrer zudem in der Schule so überzogen aussprach. Bei uns zu Hause waren die Deutschen ‚Moffen‘ – abgesehen von einigen Verwandten, die noch dort lebten, und einigen ‚guten Deutschen‘, die mein Vater noch von früher kannte. Mein Vater kam 1935 mit seinen Eltern als Flüchtling in die Niederlande. Er und seine Schwester überlebten den Krieg im Versteck. Seine Eltern, meine Großeltern, wurden in Sobibor ermordet. Ich bin nicht mit der jüdischen Tradition aufgewachsen. Meinem Vater zufolge brachte das ‚Jüdischsein‘ nur Unglück. Doch in den letzten zwanzig Jahren wollte ich mehr über meine Herkunft erfahren und begann auch, mich zunehmend als Jüdin zu fühlen. An den KKG-Treffen teilzunehmen, war also ein logischer Schritt. Es ist schön, dort zusammenzukommen, und neben den interessanten Themen, die diskutiert werden, sind die Kuchen ein tolles Highlight. Ich lerne viel dabei und fühle mich verbunden!“

Polly Mayer

Polly Mayer

Polly Mayer: „Als ich meine deutsche Mutter Ruth einmal fragte, woher sie komme, sagte sie auf Berlinisch: ‚Mir hat der Esel in Jalopp verlorn.‘ Meine Mutter lebte von 1935 – 1938 bei ihrer Großmutter in Berlin. Von 1938 bis 1942 lebte sie in Amsterdam und musste dann in Loosdrecht untertauchen. Von 1949 bis 1968 wohnten wir in der Gerrit van der Veenstraat in Amsterdam, in der Nähe der Beethovenstraat, wo es eine Wiener Bäckerei gab. Meine Mutter kaufte dort den Apfelstrudel direkt vom Backblech. Kaffee mit diesem Gebäck vermisse ich noch immer jeden Tag, und wie schön ist es dann, sich bei diesen Treffen in der Schubertstraat nahe der Beethovenstraat zu begegnen und in der Erinnerung an diese Wiener Bäckerei zu schwelgen.“

Will de Jong und Truusje Vrooland-Löb

Will de Jong und Truusje Vrooland-Löb

Will de Jong: „Als ich klein war, stand Deutschland für alles, was schlecht war. Ein Aspirin von Bayer kam bei uns nicht ins Haus. Dann also lieber Kopfschmerzen … Als Kind habe ich es gehasst, dass meine Mutter Lotte Kiesel, die in den 1930er Jahren aus Deutschland geflohen war, mit einem starken Akzent sprach. Freunden und Mitschülern erzählte ich deshalb, sie hätte als Tochter eines Botschafters lange in Südafrika gelebt und spräche daher Niederländisch mit einem Akzent. Das änderte sich dann in der Sekundarschule. Mit dem Äl-terwerden kam auch das Interesse an meinen Wurzeln, die ich ebenfalls zu entdecken versuchte – zusammen mit dir, Truusje, während unserer nun schon mehr als 50 Jahre andauernden Freundschaft. Langsam wurde das, was einst Abneigung und Ablehnung hervorrief, zu einer Quelle der Neugierde, und dass wir beide einen deutschen Elternteil haben, war in all den Jahren ein wichtiger Bestandteil unserer Freundschaft. Meine Mutter konnte ich nicht mehr danach fragen, denn sie war bereits während meiner Schulzeit verstorben. Heute versuche ich nicht nur, mehr über die Familie und die (entfernten) Verwandten meiner Mutter zu erfahren, sondern auch über das Umfeld, in dem sie in Deutschland aufgewachsen ist. Deshalb lese ich viel über ihre Altersgenossinnen und -genossen: über die vielen Exil-Künstlerinnen und -Künstler, Schriftsteller und Fotografinnen, die wie sie selbst in der Zeit zwischen den beiden Welt¬kriegen in die Niederlande geflohen waren.

Ich bin jetzt seit zwei bis drei Jahren bei KKG und denke gerne an die vielen interessanten Nachmittage und Treffen zurück, an denen ich teilgenommen habe. Man könnte daher sagen, dass die Gesellschaft ein großes Bedürfnis meinerseits befriedigt, aber natürlich ist es mehr als nur die Suche nach den eigenen Wurzeln. Es herrscht auch eine gewisse deutsche Gemütlichkeit, ganz zu schweigen von den leckeren Häppchen und Kuchen, die die Gäste jedes Mal mitbringen!“

Und wie stehe ich selbst zu meinem deutschen Löb-Hintergrund?

Ach, eigentlich hat mich das nie sonderlich gestört. Ich mag den Klang dieser schönen Sprache, und ich bin süchtig nach der Musik von Schubert und Schumann. Mein Vater sprach akzentfrei und fehlerfrei Niederländisch und korrigierte als Gestalter sogar die Texte niederländischer Verfasser. Über den Krieg und ihre Flucht in die Niederlande wurde zu Hause kaum oder gar nicht gesprochen, auch nicht über seinen jüdischen Hintergrund. Wir Kinder haben uns immer ein bisschen über seine deutsche Herangehensweise an Krankheiten amüsiert: Kreislaufbeschwerden, Schüttelfrost, Schwindel oder Nervenschwäche kannten wir in unserer niederländischen Familie nicht. Wir tranken ab und zu, so wie sein Onkel Julius, brav Hagebuttentee und glaubten wie Papa, dass ein nasser, warmer Prießnitz-Wickel um den Hals bei Halsschmerzen und Angina wirklich helfen würde. Ansonsten machten wir uns meistens über die Marotten „unseres Ausländers im Haus“ etwas lustig. Und wenn unser strenger Großvater zum Mittagessen kam, betrugen wir uns anständig und fanden seinen Prinz-Bernhard-artigen schweren deutschen Akzent und seine merkwürdigen Sprachfehler einfach witzig und süß. Immerhin war er unser Großvater.

Nur sein und auch unser deutscher Nachname Löb war in der ersten Maiwoche vor den Kriegsgedenkfeiern in der oberen Primarstufe in den 1950er/60er Jahren in unserer Amsterdamer Gartenstadt immer eine schwierige Sache. Dann zischten mir die Kinder „Moffenjong“ zu, und: „Ihr Deutschen habt Anne Frank ermordet!“ Ich war damals die Außenseiterin der Klasse, mir war die ganze Woche über übel und ich konnte kaum schlafen. Denn diese Kinder hatten ja wahrscheinlich recht! Das hatte ich erkannt. Weil Großvater auf eine so deutsche Weise sprach und im Ersten Weltkrieg in der Armee war. Dadurch hatte er seinen linken Arm verloren. Also sagte ich zu Hause nichts, da es ohnehin schon schlimm genug war. Auch von ihrer jüdischen Herkunft, die der Grund für ihre Flucht der Familie in die Niederlande war, wusste ich bis damals noch nichts. Wegen dieser unangenehmen Situation in der Schule mochte ich auch diese Anne Frank nicht. Ich wollte auch nie Het Achterhuis (Das geheime Nebenhaus) in meiner eigenen Stadt besuchen. Bis heute bin ich immer noch nicht dort gewesen.

Aber bei den Leuten von Kaffee und Kuchen fühlte ich mich vom ersten Moment an wie zu Hause. Und dass es sich dabei um eine besondere Gesellschaft handelt, wurde mittlerweile auch von den Medien aufgegriffen. So zeigte 2022 eine Fernsehdokumentation über das Verhältnis Amsterdams zu seiner jüdischen Bevölkerung im Laufe der letzten 400 Jahren auch einige Aufnahmen von einem Treffen der Kaffee-und-Kuchen-Gesellschaft im Wohnzimmer von Jack Weil.

Nach dem stets interessanten, eher ernsthaften Vortrags-Teil gibt es für uns ältere „Exil-Kinder“ nach einem solchen Treffen immer noch ein lebhaftes und geselliges Beisammensein … natürlich mit Kaffee und Kuchen!