Der neue Glaspalast an der Spree

Seit Mai 2006 hat Berlin einen Hauptbahnhof

_von Christiane Kirbach_

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Der Hauptbahnhof und die Spree – ein Blick aus südöstlicher Richtung.

Der Name hat sich geändert – und auch sonst erinnert nicht mehr viel an den alten Lehrter Stadtbahnhof. Dort, wo bis zum Zweiten Weltkrieg einer der traditionsreichen Bahnhöfe der Stadt und danach eine S-Bahnstation standen, erhebt sich heute im öden Brachland zwischen Moabit und Mitte ein gläserner Prachtbau. Am 28. Mai 2006 wurde Berlins Hauptbahnhof eröffnet – nach elfjähriger Bauzeit, geschätzten 700 Millionen Euro Kosten und zahlreichen Querelen zwischen dem Architekten, der Bahn AG und dem Berliner Senat. Die Stadt hat damit zum ersten Mal in ihrer Geschichte einen richtigen Hauptbahnhof. Und die erste Bilanz fällt positiver aus als es die Vorzeichen vermuten ließen.

In den ersten Wochen erlebte der Bahnhof einen wahren Massenandrang. Den neugierigen Berlinern, die das nunmehr große Bauwerk inspizieren wollten, folgten Scharen von Fußballfans. Die von der Bahn erwarteten 300.000 Besucher und Reisenden pro Tag – von vielen Kritikern als hoffnungslos optimistisch abgetan – kamen bisher tatsächlich. Mittlerweile gehört der Hauptbahnhof fest zum Stadtbild und ist zu einer Sehenswürdigkeit und Touristenattraktion geworden.

Ursprünglich sollte der Hauptbahnhof schon im Jahr 2000 fertig sein, die 1995 begonnenen Bauarbeiten verzögerten sich um Jahre. Architekten, Techniker und Ingenieure kämpften mit dem feinen märkischen Sand, dem hohen Grundwasserspiegel und statischen Problemen. Die Spree, die in unmittelbarer Nähe des Hauptbahnhofs fließt, musste zeitweise umgelenkt werden. Während der gesamten elfjährigen Bauphase erhitzten sich an dem Bau aus Glas, Stahl und Beton die Gemüter. Die Bahn AG versuchte, durch Superlative zu überzeugen: Der größte und modernste Kreuzungsbahnhof Europas, die größte unterirdische Halle der Welt, die größte Photovoltaikanlage Deutschlands sollten entstehen. Doch der neue Bahnhof war lange Zeit nicht nur das spektakulärste, sondern auch das meistgeschmähte Architekturprojekt der Stadt. Es hagelte Kritik: Der Hauptbahnhof sei ein Milliardengrab, ein überambitioniertes Prestigeprojekt des Bahnchefs Mehdorn, und noch dazu irgendwo im Niemandsland gebaut.

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Reisende und Besucher verteilen sich auf fünf Ebenen.

Im Süden, auf der anderen Spreeseite, das Kanzleramt, der Humboldthafen, ein paar Wohntürme und brachliegende Grundstücke – das sind die Nachbarn des Hauptbahnhofs. Sein Standort in diesem städtebaulich vernachlässigten Gebiet riss die Presse vor und nach den Eröffnungsfeierlichkeiten zu poetischen Vergleichen hin. Der Hauptbahnhof wirke wie ein in der Wüste zwischengelandetes gläsernes Raumschiff, wie ein leuchtender Stern in trister Umgebung. Für die Reisenden hat das auch ganz praktische Konsequenzen. Die unzureichende Anbindung des Hauptbahnhofs an den öffentlichen Nahverkehr ist ein Hauptpunkt der Kritik. Bisher sind die Reisenden nur durch Busse und die S-Bahn in Ost-West-Richtung mit dem Rest der Stadt verbunden. Eine S-Bahn in Nord-Süd-Richtung existiert bisher nur auf dem Papier. Die geplante U-Bahn-Linie zum Alexanderplatz wurde auf zwei Stationen verkürzt und fährt nur bis zum Brandenburger Tor.

Auch deshalb hat die Entscheidung Mehdorns, den Bahnhof Zoologischer Garten nach Eröffnung des Hauptbahnhofs komplett vom Fernverkehr abzukoppeln, so großen Protest hervorgerufen. Viele Berliner trauerten um diesen legendären Ort des alten West-Berlins, der seinen Status als wichtigster Fernbahnhof verlor, und befürchteten einen Niedergang des gesamten Gebietes um den Zoo. Doch für den Bahnhof gab es im neuen Verkehrskonzept für Berlin keinen Platz mehr. Hielten die Fernzüge bisher an mehreren Stationen entlang der Stadtbahn, die Berlin in Ost-West-Richtung durchschneidet, bildet nun der Hauptbahnhof einen Knotenpunkt für alle vier Himmelsrichtungen, ein Verbindungsstück zwischen der OstWest- und der Nord-Süd-Achse. Die meisten der ICEs fahren jetzt in Nord-Süd-Richtung durch die Hauptstadt. Mit den Bahnhöfen Gesundbrunnen im Norden und Südkreuz – dem früheren S-Bahnhof Papestraße – entstanden zwei neue Haltestellen für den Fernverkehr.

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Ein filigraner und lichtdurchfluteter Bau – dank riesiger Glasdächer.

Die beiden Verkehrsebenen kreuzen sich im Bahnhofsgebäude, die Ost-West-Ebene in luftiger Höhe, überwölbt von einem spektakulären Glasdach, die Nord-Süd-Ebene in einer unterirdischen Halle. Bis hierhin dringt durch ein System von großen Öffnungen in den Decken viel Tageslicht. Das gesamte Gebäude wirkt trotz seiner monumentalen Ausmaße filigran und leicht. Das Grundkonzept des Architekten Meinhard von Gerkan vom Hamburger Architektenteam Gerkan, Marg und Partner ist das von zwei einander durchdringenden riesigen gläsernen Hallen, über die zwei 46 Meter hohe Gebäude wie zwei Bügel gespannt sind. In den zwölfgeschossigen Türmen befinden sich Büros, 80 Geschäfte und Gastronomiebetriebe reihen sich im Bahnhofsgebäude auf drei Ebenen hintereinander. Insgesamt gibt es fünf Verkehrsebenen, die durch 54 Rolltreppen, 43 Aufzüge und zusätzlich noch neun Panoramaaufzüge miteinander verbunden sind.

Gerkan und Bahnchef Mehdorn – als oberster Bauherr – haben sich während der Bauarbeiten heillos zerstritten. Zu stark waren die Eingriffe, die Mehdorn in Gerkans Konzept einer „Kathedrale des Verkehrs“ vornahm. Die tatsächlich an eine Kathedrale erinnernde geplante Gewölbekonstruktion in der unterirdischen Halle musste einer billigeren Flachdecke weichen. Gegen diese Maßnahme zog Gerkan vor Gericht. Um Zeit zu sparen und den Bahnhof bis zur Fußball-WM eröffnen zu können, ließ Mehdorn das Glasdach über der oberen Schienenanlage kurzerhand von 430 auf 321 Meter kürzen. Architekt Gerkan sieht sein Gesamtkonzept verstümmelt und bezeichnete das Bahnhofsgebäude in seiner jetzigen Form als Torso.

Die Investoren stören diese ästhetischen Fragen wenig. Sie beginnen, sich langsam für die unbebauten Grundstücke rund um den Hauptbahnhof zu interessieren. Seine Eröffnung hat das bisher vernachlässigte und unattraktive Stadtgebiet zwischen Moabit und Mitte deutlich aufgewertet. Laut Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg Junge-Reyer soll hier in den nächsten Jahren ein eigenständiges neues Stadtquartier am Wasser entstehen. Dann hätte es mit der Einsamkeit des riesigen Glaspalastes Hauptbahnhof ein Ende.


Deutsche Bahn AG
Potsdamer Platz 2
10785 Berlin
www.hbf-berlin.de

Die Autorin studiert Politikwissenschaft an der Universität Potsdam und absolviert ein Praktikum in der Redaktion von _aktuell_ .