Bildungssenatorin Sandra Scheeres erklärt heute, 18. April, im “Tagesspiegel”, wie sie sozial benachteiligte Schüler in der Krise fördern will und warum sie an den Prüfungen trotzdem festhält.
Frau Scheeres, die langsame Rückkehr zum Normalbetrieb ist in Arbeit. Für Berlin gehört dazu, dass sich bald an manchen Prüfungstagen über 250 Schüler drängen werden. Sind die Prüfungen das erhöhte Infektionsrisiko wert?
Scheeres: Bei allen Planungen wurden die Empfehlungen der medizinischen Experten berücksichtigt. Bis zum 25. Mai finden nur Abiturprüfungen statt, keine Prüfungen zum Mittleren Schulabschluss (MSA). An wenigen Tagen und nur an einzelnen Schulen absolvieren dabei etwas mehr als 100 Schüler zeitgleich Abi-Prüfungen.
Im Schnitt sind es deutlich weniger. Diese Schülerinnen und Schüler werden auf viele Räume in der Schule verteilt. Die Schulen sind darauf eingestellt, dass vor, während und nach der Prüfung ein Mindestabstand von 1,5 Metern eingehalten wird. Es wird also kein Gedränge geben. Die Bezirke als Schulträger haben besondere Reinigungen zugesagt, Hygienemaßnahmen werden umgesetzt.
Wie kommen Sie auf „etwas mehr als 100 Schüler“? Große Gymnasien berichten, dass sie zeitgleich über 250 Prüflinge durch MSA und Abitur haben, große Sekundarschulen haben allein 200 Schüler im MSA.
Das sind die Zahlen fürs Abitur. Die MSA-Prüfungen beginnen wie gesagt erst später.
Warum wollen Sie die MSA-Prüfungen verpflichtend durchführen, obwohl sie bundesweit gar nicht vorgeschrieben sind, wie die Kultusministerkonferenz (KMK) jetzt noch mal bestätigte?
Es ist richtig, dass es keine Ländervereinbarung zur MSA-Prüfung gibt, anders als für das Abitur. Aber Berlin hat sich bereits vor Jahren dazu entschlossen und auch gesetzlich festgelegt, dass es einen Prüfungsteil für den MSA gibt. Andere Bundesländer führen ebenfalls zentrale Prüfungen durch, damit Schülerinnen und Schüler die Mittlere Reife erlangen.
Migranten- und Schulleiterverbände, Schüler und Eltern warnen davor, dass durch die Schulschließungen diejenigen, die es sowieso schwerer haben, noch mehr benachteiligt sind, weil sie zu Hause nicht gut unterstützt werden können. Es wird mit noch stärkeren Unterschieden als sonst bei den Ergebnissen je nach sozialer Herkunft gerechnet. Wie wollen Sie das ausgleichen?
Darauf müssen wir ein besonderes Augenmerk haben. Wir haben deshalb etwa das bundesweit beachtete Projekt „Lernbrücken“ gestartet, mit dem wir insbesondere diese benachteiligten Schülerinnen und Schüler zusätzlich unterstützen.
An der Theodor-Heuss-Gemeinschaftsschule nehmen jetzt in den Ferien beispielsweise über 60 Schülerinnen und Schüler an diesem zusätzlichen Programm teil.
Mehrere EU-Länder haben ihre Abschlussprüfungen abgesagt. Finden Sie es richtig, dass Deutschland einen anderen Weg geht? Oder haben Sie sich nur der KMK-Meinung gebeugt?
Ich halte es für sehr wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler des Jahrgangs 2020 einen anerkannten Abschluss erhalten können – der für die gesamte Bundesrepublik und im Ausland gilt. Das war stets meine Position.
Schüler können ohne große Formalitäten von den Prüfungsterminen zurücktreten – etwa weil sie Kontakt mit Infizierten hatten. Wie wird es geregelt, wenn nur ein Teil der Prüfungen abgelegt werden kann?
Betroffene Schülerinnen und Schüler werden im Krankheitsfall oder aus Gründen häuslicher Quarantäne Nachschreibetermine, aber je nach Fall auch individuelle Prüfungsmöglichkeiten erhalten.
Es wurde gefordert, über das Bildungs- und Teilhabepaket Endgeräte anzuschaffen, damit auch sozial benachteiligte Schüler beim Homeschooling alle Möglichkeiten haben. Was halten Sie davon?
Über das Bildungs- und Teilhabepaket geht es leider nicht. Aber wir werden für sozial benachteiligte Schüler Geräte anschaffen.
Der Landeselternausschuss fordert, Sie sollten Mindeststandards formulieren, damit Lehrer für ihre Schüler erreichbar sind und Schüler wirklich Unterstützung bekommen. Werden Sie das aufgreifen?
Zunächst möchte ich eine Lanze für die Lehrkräfte brechen: Sehr viele Pädagoginnen und Pädagogen sind gut ansprechbar, halten Kontakt zu den Schülern und stellen Lernmaterial in angemessener Form zur Verfügung. Gerade an Grundschulen haben sich Wochenpläne vielfach bewährt. Diese Erfahrungen werden wir zusammenfassen und den Schulen als Orientierung zur Verfügung stellen.
Also keine Mindeststandards für die Lehrer, die einfach abtauchen und keine Beschwerdehotline, wie vom Landeselternausschuss gefordert?
Eltern haben die Möglichkeit, sich an die Schulleitung und gegebenenfalls auch an die Schulaufsicht zu wenden. Wir haben zudem ein gut funktionierendes Beschwerdemanagement und werden eine klare Orientierung vorgeben.
Wie viel Prozent der Lehrer- und Erzieher fallen bei dem Einsatz in ihren Einrichtungen potenziell aus, weil sie über 60 Jahre alt sind? Wie wollen Sie die Lücken füllen, wenn die Kitas und Schulen wieder voll öffnen?
Das ist von Schule zu Schule unterschiedlich. Im Schnitt gehen wir davon aus, dass 20 Prozent der Lehrkräfte nicht zur Verfügung stehen, weil sie über 60 Jahre alt sind. Aber die Schulen werden erst mal schrittweise geöffnet, der Unterricht ist verkürzt und es findet eine Konzentration auf die Kernfächer statt.
Deshalb kann der Unterricht auch vorübergehend mit weniger Personal gestemmt werden. Gegebenenfalls unterstützen sich die Schulen auch gegenseitig. Wir werden auf alle verfügbaren Pädagoginnen und Pädagogen angewiesen sein. Ich baue darauf, dass wir in der Coronavirus-Krise alle an einem Strang ziehen. Leider gibt es im Moment keine Normalität.
Es gibt Befürchtungen, dass die Alphabetisierung nicht vollständig gelingen kann. Dann fehlt die Basis für die ganze Schulzeit. Wie wollen Sie gegensteuern? Mit Sommerschulen? Mit einem späteren Sommerferienbeginn? Oder sollen mehr Kinder die zweite Klasse wiederholen?
Die Befürchtungen gibt es. Und wir müssen ehrlich sein: Homeschooling allein kann nicht den Präsenzunterricht in der Schule mit ausgebildeten Lehrkräften gleichwertig ersetzen. Unsere Aufgabe ist es deshalb, die Lücken möglichst kleinzuhalten und Angebote zu schaffen, mit denen die Defizite abgebaut werden. Über das schon genannte Projekt „Lernbrücken“ etwa suchen freie Träger der Jugendhilfe den Kontakt zu Schülern, die über keinen Computer verfügen oder die kein Festnetz haben.
Sie händigen diesen Schülern Lernmaterial aus oder suchen die Familien auf. Perspektivisch wird es auch eine spezielle Förderung in Kleingruppen geben. Sommerschulen sind möglich, damit haben wir bereits gute Erfahrungen gemacht. Einen späteren Ferienbeginn halte ich für nicht sinnvoll.
Durch die anhaltende Schulschließung wird es vor allem für die Grundschüler schwierig, mit ihren Lehrern zu kommunizieren. Welche Modelle gibt es für diese Altersgruppen?
Nicht nur für die Grundschulen ist das schwierig. Einen sehr guten Weg geht zum Beispiel die Schule an der Jungfernheide. Dort wurde vereinbart, dass die Lehrkräfte telefonisch und per Mail Kontakt zu den Schülern halten. Zweimal in der Woche muss es ein persönliches Gespräch geben. Auch die Schulsozialarbeiter begleiten die Familien, insbesondere die, die Probleme haben. Bewährt hat sich auch unser digitaler Lernraum Berlin.
Durch die fortgesetzte Schließung der Kitas und der Grundschulen haben die Eltern weiterhin ein Betreuungsproblem. Auf welche Gruppen wollen Sie den Anspruch auf Notbetreuung ausweiten?
Wir gehen hier schrittweise vor und müssen den Gesundheitsschutz natürlich beachten. Im ersten Schritt werden wir eine Ausweitung bei den sogenannten systemrelevanten Berufen vornehmen, die Anspruch auf eine Notbetreuung haben. Das wird dann auch für alle Lehrer und Erzieher im Dienst gelten.
Es ist zunächst geplant, dass die Ein-Eltern-Regelung ausgeweitet wird – es müssen nicht beide Elternteile in einem systemrelevanten Beruf arbeiten. Später sollen dann weitere Berufsgruppen einen Zugang zur Notbetreuung erhalten. Auch pädagogische Gesichtspunkte müssen berücksichtigt werden.
Deshalb wird die Notbetreuung in einer weiteren Stufe für die Schulanfänger geöffnet und auch die Eingewöhnung neuer Kinder soll ermöglicht werden.
Was ist mit den Alleinerziehenden? Werden sie Anspruch haben?
Auch eine Notbetreuung für Kinder aus Familien oder von Alleinerziehenden in besonders herausfordernden Situationen wird im ersten Schritt ermöglicht werden.
Also nur Alleinerziehende in Notlagen?
Eine besonders schwierige Situation kann sein, dass erwerbstätige Alleinerziehende derzeit nicht arbeiten können, weil sie keine andere Kinder-Betreuung organisieren können und nicht mehr wissen, wie sie ihre Rechnungen bezahlen.
Soll der Unterricht im Schichtbetrieb aufgenommen werden, wenn er wieder beginnt? Wie kann das ablaufen?
Wichtig ist, dass die Lerngruppen verkleinert werden, sodass der Infektionsschutz gewährleistet wird und Kontakte reduziert werden. Das kann zunächst im zeitlich parallelen Teilungsunterricht erfolgen. Es gibt ansonsten nicht ein Modell für alle Schulformen: Bei den beruflichen Schulen zum Beispiel kann es Blockunterricht geben, bei den Grundschulen auch Wechselbetrieb. Die Ganztagsschule, wie wir sie kennen, wird es bis zu den Sommerferien nicht geben.