SektenInfo Berlin unterstützt und berät Menschen, die mit konflikthaften Lebenshilfeangeboten und manipulativen Gruppen konfrontiert sind. Anlässlich der Veröffentlichung des Jahresberichts 2021 sprachen wir mit Karol Küenzlen-Zielinski aus der Beratungsstelle zu sogenannten Sekten und konflikthaften Angeboten auf dem Lebenshilfemarkt.
Was genau ist eigentlich unter einer sogenannten Sekte zu verstehen?
Der Begriff Sekte ist in unserem Arbeitsfeld recht umstritten beziehungsweise definitorisch unscharf. Deswegen benutzen wir den Begriff stets mit einem vorangestellten „sogenannte“ oder beschreiben Sekten als konflikthaftes Angebot auf dem Lebenshilfemarkt. Andere mögliche Umschreibungen wären zum Beispiel psychologisch manipulierende Gruppe, destruktive Gruppe oder totalitäre/totale Gruppe.
Auch wenn der Begriff schwierig ist, eröffnet er (neben dem leichteren Auffinden unserer Beratungsstelle, was dem Begriff letztendlich seine Rechtfertigung gibt) unseren Klientinnen und Klienten und uns eine Möglichkeit der ersten Auseinandersetzung mit dem Phänomen beziehungsweise der jeweiligen persönlichen Betroffenheit: ist es der betroffenen Person wichtig, allein den Begriff für die Einordnung einer Gruppe zu benutzen oder kann er eine Hilfe sein, um auf die Problematiken hinter dem Label „Sekte“ zu schauen?
Inwiefern sind psychologisch manipulierende Gruppen in Berlin tatsächlich noch ein Thema?
Das Thema sogenannter Sekten oder konflikthafter Angebote auf dem Lebenshilfemarkt, wie wir unseren Arbeitsbereich umschreiben, bleibt, wie die Zahlen der letzten Jahre zeigen, in Berlin weiterhin auf hohem Niveau präsent. Die über 600 Anfragen 2021 bedeuten zudem einen Anfrageanstieg um circa 10 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Momentan zeichnet sich die Tendenz ab, dass die Zahlen weiterhin steigen. In krisenhaften Zeiten haben auch konflikthafte Angebote Hochkonjunktur, da sie vermeintlich einfache Antworten auf schwierige persönliche oder gesellschaftliche Entwicklungen bieten. Neben uns arbeiten auch andere konfessionelle und weltliche Institutionen zu diesem Bereich in Berlin und unterstützen Menschen durch Beratung oder Selbsthilfegruppen, etwa die Weltanschauungsbeauftragten der Kirchen oder andere psychosoziale Beratungsstellen.
Welche Entwicklungen können Sie und andere Anlaufstellen in Deutschland verzeichnen?
Vor allem evangelikale Gruppen, Verschwörungstheorien, die Esoterik oder der Psychomarkt haben Anfragen bei uns ausgelöst. Der sich in den letzten Jahren abzeichnende Trend der Diversifizierung des Angebotes auf dem Lebenshilfemarkt setzt sich fort. Wir sehen viele kleine Anbieter und Mikroangebote, die vor allem digital ihre Ideologie, ihre Verheißungen und Scheinlösungen preisbieten. Ähnlich beurteilen es die anderen großen Beratungsstellen in Deutschland die SektenInfo in Nordrhein-Westfalen und die Zentrale Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen (Zebra) in Baden-Württemberg. Leider muss weiterhin festgestellt werden, dass es keine bundesweite Abdeckung mit staatlichen Beratungsstellen zu unserem Themenbereich gibt.
Können Sie einen Fall schildern, der Sie im Berichtsjahr besonders beschäftigt hat?
Uns beschäftigt letztlich jeder Einzelfall. Wir erfahren davon, wie Familien zerstört werden, Beziehung kaputtgehen oder sich Menschen in den finanziellen Ruin begeben.
Inwiefern gehören Verschwörungstheorien und Verschwörungsglaube zum Instrumentarium von Sekten beziehungsweise führen zu sektenartigen Verhältnissen?
Bei Verschwörungserzählungen sind viele Konflikte ähnlich gelagert, wie in sogenannten Sekten. Doch ist das Phänomen nicht neu in unserem Bereich. Ein Verschwörungsglaube hat schon oft zur ideologischen DNA von verschiedenen Gruppen gehört, lange vor der Coronakrise. Der Glaube ist durch die Coronakrise in der Öffentlichkeit präsenter geworden und hat durch digitale Angebote, wie bei Telegram, eine größere Reichweite gefunden. Masken und Impfen waren immer wieder ein Streitthema in Familien und Freundschaften. Darüber sind Beziehungen gebrochen oder auch die wirtschaftlichen Existenzen von Familien gefährdet worden. Mittlerweile gibt es drei weitere Beratungsstellen in der Metropolregion, mit denen wir kooperieren und die ihre Unterstützung für Betroffene anbieten. Dieser Phänomenbereich der Verschwörungstheorien ist hoch konfliktiv und hat stark destruktive Aspekte, da bereits belastete Menschen immer mehr in eine katastrophale oder apokalyptische Weltsicht
gezogen werden. Es sind auch Radikalisierungstendenzen zu beobachten, die wiederum auf die Gesellschaft und demokratische Institutionen, wie z.B. Schulen bei Ablehnung der Schulpflicht, ausstrahlen.
Grundsätzlich gefragt: Woran merken Menschen, dass sie an eine Sekte oder in sektenähnliche Verhältnisse geraten sind? Was sind typische Anzeichen und Szenarien?
Es kann zum Beispiel der Umgang mit Fragen, Zweifeln oder Kritik innerhalb der Gruppe als Richtschnur genommen werden. Werden diese grundsätzlich abgelehnt, herrscht kein offener Raum für Austausch und Diskurs, ist Vorsicht geboten. Damit hängt auch der erwartete Gehorsam gegenüber einer Autorität oder einer Ideologie zusammen. Wenn eigene freie Entscheidungen nicht akzeptiert werden, kann das ein Warnhinweis sein.
Gerade im Bereich der digitalen Angebote fällt auf, dass Verheißungen und Versprechungen gemacht werden, die vollkommen unrealistisch sind. Angebote wie „Millionär in ein paar Wochen!“ oder „Geheilt nach einem Wochenende!“ Wenn diese einem Realitätscheck unterzogen werden und unglaubwürdig erscheinen, sollte unbedingt genauer hingesehen werden, was die Konsequenzen einer Mitgliedschaft in der Gruppe bedeuten würde.
Wie gehen Betroffene am besten vor, um Manipulationen aufzulösen und sich von solchen Menschen/Gruppen zu distanzieren?
Der Anschluss an eine Gruppe ist ein individueller Prozess. Deswegen gibt es keine Patentlösung, wenn es um die Loslösung aus der Gruppe geht. Begleitung und Unterstützung auf mehreren Ebenen sind hilfreich, etwa durch Beratung oder Therapie. Familiäre und soziale Unterstützung sind ebenso eine Säule in diesem Prozess. Informationen über die Gruppe und Erfahrungsberichte früherer Aussteigerinnen und Aussteiger und der Austausch mit ihnen helfen bei der Einordnung der eigenen Erfahrungen und Erlebnisse.
Worauf sollten Angehörige achten?
Wichtig ist für Angehörige, neugierig zu sein und nach den Gründen zu suchen, was die Motivlage des Anschlusses an eine solche destruktive Gruppe ausgemacht hat. Man kann Fragen stellen: Was wurde dir versprochen? Was hast du gesucht? Was findest du an der Gruppe interessant oder faszinierend? Somit kommen Betroffene auf die Bedürfnisse, die die Zugehörigkeit gefördert haben. Die Überlegung für Angehörige wäre dann stets, wie diese Bedürfnisse anderweitig als durch die Gruppe erfüllt werden können. Zum Beispiel, wenn Unsicherheit als Anschlussgrund geäußert wurde, könnte ein Ersatz gemeinsam gesucht werden, um Sicherheit im Leben der betroffenen Person aufzubauen. Letztendlich ist der Ausstieg ein emanzipatorischer Prozess, wo Autonomie wiederentdeckt oder überhaupt zum ersten Mal entdeckt wird. Dies auch als schönen und angenehmen Prozess und Zustand unseres menschlichen Daseins wahrzunehmen, kann helfen in der Gesellschaft außerhalb der Gruppe wieder gut oder
neu anzukommen.