Die Ereignisse in der Ukraine lassen niemanden unberührt, Kinder und Jugendliche schon gar nicht. Viele machen sich Sorgen oder haben Angst. Woran aber können Erwachsene Sorgen und Ängste von Kindern und Jugendlichen erkennen? Warum kommt es auch zu aggressiven Reaktionen? Wie können Kinder und Jugendliche in der aktuellen Situation gut aufgefangen werden? Und worauf sollte man achten, wenn in Gruppen oder Klassen über die Geschehnisse in der Ukraine gesprochen wird? Diese und andere Fragen haben wir der Psychologin Andrea Renz-Cello gestellt.
Frau Renz-Cello, wie schlagen sich die Ereignisse in der Ukraine in Ihrem Alltag als Schulpsychologin nieder?
Aktuell sind es vor allem die Schulen, die die Verunsicherungen aufgrund der Ereignisse in der Ukraine auffangen. Wir rechnen etwas verzögert mit einer deutlichen Zunahme der einzelnen Anfragen, die mit diesen Ereignissen im Zusammenhang stehen. Wenn wir in den letzten Tagen an Schulen waren, wurde schnell das Bedürfnis nach Austausch über die Auswirkungen der aktuellen Situation und deren Bedeutung für den Unterrichtsalltag deutlich. Schulpersonal ist in unterschiedlicher Weise betroffen, besorgt und verunsichert, wie sie mit diesen aktuellen Ereignissen in Schule umgehen sollen. Viele beschäftigt die Frage, ob und wie sie mit Schüler/-innen dazu aktiv in das Gespräch gehen und worauf sie dabei achten sollten.
Die Betroffenheit von den Ereignissen in der Ukraine zeigt sich natürlich auch in den Reaktionen der Schüler/-innen selbst, die sich im Moment v.a. an die Hilfesysteme in der Schule wenden und deren Anliegen mit uns in einem Beratungsteam je Schule bei Bedarf besprochen werden. So berichten beispielsweise einzelne Kinder und Jugendliche von Hoffnungslosigkeit. Sie haben das Gefühl, dass es nach über zwei Jahren der Pandemie und nun weiter herausgefordert durch die aktuellen Geschehnisse keine Rückkehr in eine Alltagsnormalität zu geben scheint. Dies verstärkt Ängste und verringert das Gefühl der Selbstwirksamkeit. Kinder und Jugendliche mit eigener Fluchtgeschichte und eigenen Kriegserlebnissen, sind sehr besorgt und befürchten, dass der Krieg auch hier vor Ort ausbricht. Sie wenden sich häufig tief verunsichert an ihre Lehrkräfte oder suchen sich Halt in ihrer Peergruppe.
Sind Ängste von Kindern und Jugendlichen eigentlich immer sofort ersichtlich? Oder gibt es versteckte Anzeichen, auf die Eltern und Pädagog/-innen achten sollten?
Ängste können sich sehr unterschiedlich zeigen. Manche Kinder können ihre Ängste gut benennen, andere sind innerlich wie eingefroren und können keine Auskunft über ihr Erleben geben. Wieder andere sind vielleicht sehr aufgedreht, reden ohne Unterlass und sind viel in Bewegung. Noch andere Kinder bekommen Schmerzen, ziehen sich zurück oder melden sich gar krank und sind aktuell gar nicht in den Schulen sichtbar. Wir empfehlen, die Kinder und Jugendlichen aufmerksam zu beobachten. Lehrkräfte und Eltern sollten versuchen, die Kinder und Jugendliche einzeln in den Blick zu nehmen und fragen: Hat sich bei dem Kind oder dem/der Jugendlichen etwas im Verhalten verändert? Ist im Alltag ein angemessener Wechsel von Anspannung/Aufregung und Entspannung/Ruhe erkennbar? Und in den Schulen natürlich: Kommt der/die Schüler/-in überhaupt regelmäßig in die Schule?
Was können Erwachsene tun, wenn sich Kinder und Jugendliche anders als sonst verhalten?
Falls neue oder veränderte Verhaltensweisen auftauchen, ist zu empfehlen, die Kinder und Jugendlichen darauf anzusprechen, um diese Veränderungen in einen Kontext einordnen zu können. Gibt es Hinweise, dass diese Veränderungen beispielsweise mit den aktuellen Ereignissen zu tun haben, sind Gesprächsangebote oder eine Weiterleitung an externe Hilfsangebote hilfreich.
Wo setzen Sie bei Ängsten von Kindern und Jugendlichen als Psychologin an?
Wenn Kinder und Jugendliche zu uns in die Beratung kommen, haben wir sicherlich sehr unterschiedliche Zugänge, um mit ihnen und ihren Ängsten in Kontakt zu kommen. Schließlich sind uns Psycholog/-innen Ängste auf unterschiedlichsten Ebenen vertraut. Mir ist zunächst immer wichtig, zu vermitteln, dass es völlig normal ist, Ängste zu haben, und dass es manchmal sogar lebensnotwendig ist, Ängste wahr- und ernst zu nehmen. Ängste aktivieren unser Nervensystem, unser Herz schlägt schneller, die Durchblutung der Muskeln wird verstärkt, wir werden wach und aufmerksam, der Körper bereitet sich auf eine besondere Situation wie Kampf oder Flucht vor. Diese Abläufe erklären auch die mitunter starken physischen Reaktionen. Wenn diese Schutzreaktionen keinen Weg finden, gehen manche auch in die Erstarrung. Auch dies kann völlig angemessen sein, es braucht nur, wenn die Gefahr vorbei ist, Raum, diese Erstarrung wieder aufzulösen.
Ich will im konkreten Gespräch stets herausfinden, wie stark die Ängste sind und wie die Kinder und Jugendlichen selbst ihre Angst einordnen. Erlebt sie sich selbst noch als handlungsfähig? Welche Ressourcen nehmen sie bei sich oder in ihrer Umgebung wahr? Was kann ihnen helfen? Was könnten sie brauchen, um die Angst zu regulieren?
Wie können Erwachsene mit den Ängsten und Unsicherheiten von Kindern und Jugendlichen am besten umgehen?
Zunächst ist es wichtig, dass wir Erwachsenen uns unserer eigenen inneren Anspannung bewusst sind. Dass wir uns klarmachen, wie sehr wir selbst beispielsweise von Sorgen überflutet werden. Dies kann verhindern, dass wir selbst in Katastrophen-Szenarien abdriften. Hier ist es notwendig, dass wir uns selbst Unterstützung beispielsweise durch Gespräche mit anderen Erwachsenen holen, um die Informationen der Medien einzuordnen und unsere Gefühle zu sortieren. Denn für unser Nervensystem können solche Vorstellungen sehr bedrohlich sein. Gespräche und Reflexionen über eigene Trigger können helfen, sich selbst zu regulieren.
Was können denn solche Trigger sein?
Getriggert werden können die Erinnerungen eigener Kriegserlebnisse, früherer Ängste vor Kriegsausbrüchen, Ängste vor atomaren Katastrophen etc. Es ist hilfreich, dies wahrzunehmen, diese alte Angst zu spüren, sich im Heute zu orientieren und sachorientiert zu vergewissern, in welcher realen Gefahr man sich aktuell wirklich befindet. Es ist nämlich dringend notwendig, möglichen Zuständen wie Ohnmachtserleben oder Ausgeliefertsein stärkende Aspekte entgegenzustellen, z.B. das Leben im Hier und Jetzt, hier vor Ort in dem Moment in Sicherheit zu sein.
Was gilt es darüber hinaus zu beachten?
Wichtig ist es, Kindern und Jugendlichen ein Gespräch über den Krieg nicht aufzudrängen. Kinder und Jugendliche sollten die Kontrolle zur Integration neuer Informationen behalten und dafür Hilfestellungen durch uns Erwachsene bekommen. Deswegen ist es günstig, vor allem auf Fragen der Kinder und Jugendlichen zu reagieren und sie auch selbst nach ihren Erklärungsmodellen zu fragen. Damit sie an ihr Vorwissen und ihre Vorstellungen anknüpfen können. Das kann den Kindern und Jugendlichen Sicherheit geben, da so mögliche diffuse Informationen eine Ordnung erhalten und sie sich orientieren können.
Wie geht man mit den emotionalen Aspekten um?
Neben der kognitiven Einordnung spielen natürlich auch die Gefühle von Kindern und Jugendlichen eine wichtige Rolle. Vertieft man mit ihnen die aktuellen Geschehnisse, sollten Erwachsene daher sehr auf ihre Gefühle achten. Macht ein Kind den Eindruck, dass es für den Moment ausreichend Informationen hat und es jetzt gerne über etwas Anderes sprechen oder lieber spielen möchte, ermöglichen Sie dies dem Kind. Kinder spüren häufig sehr gut, wieviel emotional aufgeladene Information sie für den Moment aufnehmen können und was es braucht, um sich in der eigenen Lebendigkeit zu spüren. Es ist sehr gut, sich in dieser Hinsicht einfach von ihnen leiten zu lassen. Lebendigkeit, Selbstbestimmtheit, Genuss, Freude und Hoffnung sind wichtige Gegengewichte in dieser Zeit, die Kinder, Jugendliche und natürlich auch uns Erwachsenen in unserer Selbstregulation stärken und uns somit stabilisieren können.
Wo würden Sie die Grenze ziehen? Wann sollten Eltern oder Schulen externe psychologische Hilfe hinzuziehen?
In dem Moment, in dem die eigene Betroffenheit sehr groß ist beziehungsweise man bei sich selbst wahrnimmt, dass es schwerfällt, eine sachliche Distanz zu den Geschehnissen zu wahren, kann es hilfreich sein, sich Unterstützung zu suchen. Auch, wenn es beispielsweise nicht mehr gelingt, sich mit Ruhe den Sorgen und Fragen der Kinder und Jugendlichen zu widmen und stärkend darauf zu reagieren. Vielleicht ist es möglich, andere Erwachsene – Verwandte, Freunde, Kolleg/-innen – hinzuzuziehen, wenn es Gesprächsbedarf bei Einzelnen oder in einer Gruppe von Kindern oder Jugendlichen gibt. Wenn einzelne Kinder oder Jugendliche veränderte Verhaltensweisen zeigen, scheuen Sie sich nicht davor, diese direkt darauf anzusprechen.
Was raten Sie den Lehrkräften in den Schulen, die selbst an die Grenzen ihrer Belastbarkeit geraten?
Lehrkräften kann ich zusätzlich empfehlen, in solchen Fällen auch die Sorgeberechtigten direkt anzusprechen. Auch ein Reflexionsgespräch beispielsweise mit einer Person aus dem Beratungsteam der Schule, dem SIBUZ oder anderen externen psychosozialen Beratungsstellen kann hilfreich sein, um die eigene Wahrnehmung zu sortieren und weitere Schritte zu planen.
Im Allgemeinen ist es schwer zu sagen, ab wann externe Hilfe hinzugezogen werden sollte. Das Angebot einer externen Unterstützung kann in der Regel immer gemacht werden, wenn Beratungsbedarf durch ein Kind, eine/-n Jugendliche/-n oder Eltern signalisiert wird. Zwingend notwendig wird der Einbezug weiterer Hilfesysteme, wenn der Verdacht einer Selbst- oder Fremdgefährdung vorliegt.
Insbesondere Jugendliche mit eigenem Handy erreichen täglich unzählige Bilder in den sozialen Netzwerken. Wie kann man denn den unzähligen Bildern aus dem Krieg begegnen?
Ein „gesundes“ Nervensystem reagiert auf Bilder, die zum Beispiel lebensbedrohliche Kriegsereignisse zeigen, mit einer starken Aktivierung des Sympathikus. Diese innere Aufregung kann im positivsten Sinne Tatendrang auslösen; den Wunsch, zu einer Demonstration zu gehen, Hilfsaktionen zu initiieren oder zu unterstützen. Es kann aber auch zu Schockzuständen führen. Dann wird das System überflutet und erstarrt. Hier braucht es Raum, Zeit und Halt im Außen, um diese Erstarrung wieder aufzulösen, um dem Körper wieder ein Loslassen und ein Entspannen zu ermöglichen. In solchen Fällen könnten Gesprächsrunden angeboten werden, in denen sich Jugendliche frei darüber austauschen können, was diese Bilder mit ihnen machen. Die konkreten Inhalte der Bilder sollten dabei nicht weiter vertieft werden. Wenn die Reaktionen die Jugendlichen
selbst besorgen, könnten sie gemeinsam überlegen, was ihnen helfen würde. Auch eine Psychoedukation in dem Sinne, dass Bilder Schockzustände auslösen können, könnte für Jugendliche hilfreich sein, damit sie realisieren, dass es sie stärken könnte, wenn sie sich diesen Bilderwelten zumindest vorübergehend weniger stark aussetzen.
Berlin ist eine internationale Stadt. Unsere Schulen werden auch von Schüler/-innen besucht, die Verwandte und Bekannte in der Ukraine und in Russland haben. Was können Sie Lehrkräften und Schulen mit auf den Weg geben, um den aktuellen Konflikt im Schulalltag aufzugreifen?
Hier sollte man immer vorsichtig sein. In manchen Klassen befinden sich vielleicht nicht nur Betroffene mit Verwandten und Bekannten in der Ukraine oder Russland, sondern auch Schüler/-innen mit ganz anderen Hintergründen, die aber durch die aktuellen Ereignisse in ihren Biografien getriggert werden. Beispielsweise berichteten Geflüchtete aus anderen Ländern bereits in einer Schule, dass es starke Emotionen in ihnen auslöst, zu sehen, wie Flüchtlinge aus der Ukraine mit offenen Armen in anderen Ländern aufgenommen werden. Sie erinnern sich hingegen an Zurückweisungen bei ihrer Flucht und ihrer Ankunft in einer neuen Heimat. Es ist mit einer großen Vielfalt an Reaktionen zu rechnen. Deswegen sollte gut überlegt werden, was mögliche Gespräche über diese Ereignisse auslösen könnten.
Welche Aspekte sollten bei diesen Überlegungen bedacht werden?
Wichtig ist, dass Schüler/-innen eine Wahl haben, ob sie an Gesprächen über die aktuellen Geschehnisse teilnehmen möchten. Für einzelne Schüler/-innen kann die Sachebene bzgl. des Phänomens Krieg und dessen historische und ökonomische Einbettung hilfreich sein, um die Informationen der Medien für sich zu sortieren. Schüler/-innen, die aber bereits emotional sehr involviert sind, sind vielleicht gar nicht in der Lage, diese Informationen aufzunehmen und zu integrieren. Grundsätzlich sollte in Gesprächen darauf geachtet werden, dass nicht einzelne Schüler/-innen über traumatische Ereignissen detailliert berichten, da dies wieder zu einer Sekundärtraumatisierung der Mitschüler/-innen führen könnte. Für belastete Kinder und Jugendliche sind womöglich andere Gesprächsangebote sinnvoll. Einzelgespräche oder Gespräche in kleinen Gruppen bieten manchmal einen besseren, sichereren Rahmen. Bei besonders belasteten Klassen wäre es hilfreich, sich mit der
Schulsozialarbeit, dem Beratungsteam und gegebenenfalls dem SIBUZ in Verbindung zu setzen, um gemeinsam einen Weg zu finden.
Frau Renz-Cello, vielen Dank für dieses Gespräch.