Herbstgedanken
Bild: Tobias Bräuning / pixelio.de
von Tina Gonschorek
Der Tag ist grau und kühl. Die herrlich bunten Blätter fallen von den Bäumen.
Der Wind spielt mit ihnen, lässt sie kreisen und kurz bevor sie die Erde berühren, wirbelt er sie wieder und wieder durch die Luft, bis er des Spiels müde ist und sie elegant zu Boden sinken lässt.
Ich sehe zu und gerate ins Träumen…
…ich bin eines dieser hübschen rotgelb gefärbten Blätter und segle durch die Lüfte. Die Sonne verleiht mir ein wunderschönes Leuchten und ich fühle mich frei.
Der Baum hat mich los gelassen, nachdem ich den ganzen Sommer über mit meinen Geschwistern für Schatten gesorgt habe und ich weiß, dass dies mein letzter Flug sein wird. Aber das macht mir nichts aus.
Ich wünsche mir nur noch einige Tage auf dem Boden liegen zu bleiben und vielleicht noch ein wenig mit dem Wind spielen zu dürfen.
Plötzlich kommt ein Mensch den Weg entlang. Es ist eine alte Dame in einem Rollstuhl, die aufmerksam auf den Boden schaut und sich hin und wieder bückt, um ein besonders schönes Blatt auf zu heben.
Ich liege da, in freudiger Erwartung, ob sie mich sehen wird. Und tatsächlich. Sie murmelt vor sich hin: „Da ist ja ein besonders schönes Exemplar“ und hebt mich auf.
Ich werde in einen Beutel gesteckt mit vielen anderen Blättern. Es befinden sich auch Kastanien darin und Zweige mit roten und orangefarbenen Beeren.
Immer neue Herbstschönheiten in den buntesten Farben landen in dem Beutel und irgendwann werden wir auf einen großen Tisch geschüttet.
Die alte Dame beginnt alles zu sortieren und in Vasen zu stecken. Als sie bei den vielen bunten Blättern angekommen ist, bin ich sehr aufgeregt, was nun mit mir passieren wird.
Die Frau nimmt mich vorsichtig in die Hände und schaut mich liebevoll an. Sie sagt leise: „Du bist so schön gefärbt. Es wäre schade, dich in der Vase vertrocknen zu lassen. Was mache ich bloß mit dir?“
Sie überlegt einen Moment und dann zieht ein freudiges Lächeln über ihr Gesicht. Sie trägt mich zu einem Tisch und legt mich unter eine Glasplatte.
Nach einer Weile stehen einige Menschen um den Tisch herum und bewundern mich. Sie sagen, dass ich das schönste Ahornblatt bin, dass sie jemals gesehen haben.
Nun trockne ich so langsam vor mich hin, sehe jeden Tag ein bisschen weniger, bin aber sehr stolz und glücklich, dass ich so vielen Menschen Freude bereitet habe und denke, dass ich ein sehr erfülltes und besonders langes Leben für ein Ahornblatt hatte.