Auch 73 Jahre nach der Shoah wirkt die NS-Vergangenheit in unsere Gegenwart hinein. Allerdings gestaltet sich die Erinnerungspraxis trotz oder auch wegen der ritualisierten Erinnerungspolitik in einer bemerkenswerten emotionalen Distanz zu den Opfern des NS. In der Gegenwartsgesellschaft gibt es immer noch „Opfer“-Gruppen, die weitgehend vergessen und weiterhin systematisch diskriminiert werden. Mittlerweile ist der erinnerungskulturelle Konsens weitaus brüchiger als dies noch vor kurzem möglich schien. Die Diskursverschiebung nach rechts geht mit dem offen formulierten Wunsch einher, sich des „negativen“ Gedächtnisses zu entledigen. Weitere Aspekte dieser Form der „Vergangenheitsbewältigung“ sind die oft geleugnete Kontinuität rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt und die Einfühlungsverweigerung Opfern und Angehörigen gegenüber.
Postmigrantische Perspektiven und die damit verbundenen vielfältigen Erinnerungen, machen neue und andere Perspektiven auf eine geteilte Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sichtbar.
Die Zeitschrift „Jalta“ fragt in ihrem aktuellen Heft zum Thema „Gegenwartsbewältigung“:
In welchem Verhältnis stehen die Gegenwart und die Vergangenheit zueinander? Wer erinnert sich (nicht) und wer oder was wird (nicht) erinnert? Aus welcher Perspektive und Sprecher*innenposition wird erinnert und wieviel Raum haben die unterschiedlichen Opfergruppen für ihre eigenen Narrative und Erinnerungswege? Auf welche Weise liegt in der postmigrantischen Gesellschaft eine Chance für einen Aufbruch? Welche anderen Erinnerungsformen gibt es bereits und welche müssen noch entwickelt werden?