Sozialgericht Berlin, Beschluss vom 10. Dezember 2021 (S 208 KR 1782/21 ER):
Der Antrag der Online-Versandapotheke Doc Morris auf Gewährung vorbeugenden Rechtsschutzes gegen mögliche Vertragsstrafen wegen Verstoßes gegen das Verbot von Zuwendungen bei der Abgabe verordneter Arzneimittel ist unzulässig. Die Antragstellerin hat kein Rechtsschutzbedürfnis auf die vorläufige Feststellung, dass die Paritätische Stelle des GKV-Spitzenverbandes und des Deutschen Apothekerverbandes nicht berechtigt sei, Sanktionen gegen sie zu verhängen. Ihr droht nämlich kein unzumutbarer, insbesondere kein nicht wiedergutzumachender Nachteil.
Zum Hintergrund:
Das am 15. Dezember 2020 in Kraft getretene Vor-Ort-Apotheken-Stärken-Gesetz (VOSAG) verbietet Apotheken die Gewährung von Vergünstigungen bei der Abgabe verschreibungspflichtiger Arzneimittel an gesetzlich Versicherte. Verstöße hiergegen können mit Vertragsstrafen von bis zu 250.000 Euro und der Aussetzung der Versorgungsberechtigung bestraft werden (§ 27 Abs. 4 Rahmenvertrag über die Arzneimittelversorgung nach § 129 Abs. 2 SGB V). Zuständig für die Überwachung des sogenannten „Rx-Boni-Verbotes“ ist die zum 1. Oktober 2021 geschaffene Paritätische Stelle des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband) und des Deutschen Apothekerverbandes (DAV), die vorliegend Antragsgegnerin war.
Die in den Niederlanden ansässige Antragstellerin betreibt eine Online-Versand-Apotheke und gewährte ihren Kunden in der Vergangenheit im Rahmen von Treue-Programmen Gutschriften für eingelöste Rezepte. Sie möchte weiterhin derartige Zuwendungen gewähren und damit werben.
Zum Fall:
Mit Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes vom 29. Oktober 2021 begehrte die Antragstellerin die Feststellung, dass die Antragsgegnerin nicht berechtigt sei, Vertragsstrafen zu verhängen oder ihre Versorgungsberechtigung auszusetzen. Zur Begründung führte sie aus, dass der gesetzlich verlangte Verzicht auf die beabsichtigte Preiswerbung zu erheblichen Umsatzeinbußen führen würde. Das Rx-Boni-Verbot würde zudem gegen die im Recht der Europäischen Union verankerte Warenverkehrsfreiheit verstoßen, insbesondere auch im Hinblick auf das EuGH-Urteil vom 19. Oktober 2016 (Rs. C-148/15) zu § 78 AMG alter Fassung. Der Anteil von EU-Versandapotheken am Markt verschreibungspflichtiger Arzneimittel mache zudem nur 1 % aus, weshalb eine Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts der gesetzlichen Krankenversicherung durch eine Fortsetzung der Boni-Praxis ohnehin ausscheide.
Die 208. Kammer des Sozialgerichts Berlin hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit Beschluss vom 10. Dezember 2021 abgelehnt, da er unzulässig sei. Die Antragstellerin habe kein qualifiziertes Rechtsschutzbedürfnis für den begehrten vorläufigen Rechtsschutz. Ihr drohten nämlich keine unzumutbaren Nachteile, insbesondere keine nicht wiedergutzumachenden Nachteile. Deshalb könne sie erforderlichenfalls auf nachträglichen Rechtsschutz verwiesen werden.
Die Antragstellerin sei in der Lage, eine etwaige Aussetzung der Berechtigung zur weiteren Versorgung mit Sachleistungen durch die fristgemäße Begleichung einer etwa verhängten Vertragsstrafe von bis zu 250.000 Euro zu verhindern. Denn erst nach Fristablauf könne die Aussetzung als Druckmittel erforderlich sein, um die Zahlung einer Vertragsstrafe durchzusetzen. Dass schon eine solche Vertragsstrafe eine unzumutbare Belastung darstelle, habe die Antragstellerin nicht dargelegt.
Aber selbst wenn man die durch Sanktionen drohenden Nachteile als unzumutbar einstufen würde, wäre vorbeugender Rechtsschutz nicht erforderlich, da die Antragstellerin diese auch dadurch abwenden könnte, dass sie auf die Gewährung der umstrittenen Zuwendungen verzichtet. Sie habe nämlich auch nicht glaubhaft gemacht, durch die Einhaltung des Boni-Verbots tatsächlich erhebliche Umsatz- und Gewinneinbußen gehabt zu haben. Zudem sei davon auszugehen, dass die Antragstellerin durch die Einführung des E-Rezeptes zum 1. Januar 2022 ohnehin nicht unerhebliche Zuwächse bei der Abgabe verordneter Arzneimittel erzielen werde.
Der Beschluss ist nicht rechtskräftig. Er kann von der Antragstellerin mit der Beschwerde zum Landessozialgericht Berlin-Brandenburg angefochten werden.