BVV auf britisch
Bild: Sara Luehmann
Kurz vor Abschluss meines London-Aufenthalts gab es für mich noch ein ganz besonderes Schmankerl. Am Mittwoch fand nicht nur in Friedrichshain-Kreuzberg die BVV statt, sonder auch hier. Die heißt hier Full Council Meeting und tagt nur fünfmal im Jahr. Ein echter Zufall also, dass ich tatsächlich eine miterleben durfte. Die Einladung mit der Agenda war ähnlich dick und umfangreich wie bei uns.
Die Mehrheit hier stellt die Labour-Party mit 35 Verordneten (councillors). Die Konservativen haben elf Sitze. Weitere Parteien sind nicht vertreten. Das ist schon was ganz anderes als unsere BVV mit ihren sieben Fraktionen bzw. Gruppen.
Die Funktion der Bürgermeisterin (Mayor) ist hier auch eine andere. Mayor Daryl Brown leitet die Council Meetings, hat also eher die Rolle der BVV-Vorsteherin. Außerdem nimmt sie repräsentative Termine im Bezirk wahr. Oder, um es mit den Worten meiner Kollegin zu sagen: “She’s like the Queen!”. Diese war gestern auch sehr präsent. Im Vorraum, durch den die Labour-Fraktion den Sitzungssaal betritt, stand ein riesiges Porträt der Königin auf auf einer Staffelei. Im Sitzungssaal hing ein weiteres Bild von ihr.
Am beeindruckendsten war für mich die Eröffnungszeremonie. Bevor die Bürgermeisterin den Saal betritt, schreitet ein “mace bearer” voran. Ein “mace bearer”? Ich hatte vorher auch keine Ahnung, wer oder was das sein soll. Die Kollegen hatten mir zwar neulich beim Mittagessen schon davon erzählt, aber ich habe nur höflich gelächelt und “Oh, wow!” gesagt. Es ist ein Mann mit weißen Handschuhen, der den goldenen Amtsstab (mace) der Bürgermeisterin in den Saal trägt und ihre Ankunft im Saal ankündigt. Dann stehen alle auf (außer mir, ich war ein bisschen zu langsam) und dürfen sich erst setzen, wenn der Amtsstab platziert und die mit der Amtskette dekorierte Bürgermeisterin platzgenommen hat. Ich zitiere dazu einfach einen amerikanischen Freund von mir: “Well, the Brits do love their traditions.”
Ich saß oben auf der Besuchertribüne, wo wesentlich weniger los war als bei uns. Auch Pressevertreter*innen kommen wohl so gut wie nie, sodass mein Kollege richtig überrascht war, als gestern eine Journalistin von BBC regional da war. Neben der eindeutig schickeren Innenausstattung des Sitzungssaales und der modernenen Tonanlage fiel mir sofort auf, dass die Männer alle im Anzug kamen und die Frauen ebenfalls “business casual” gekleidet waren – definitiv nicht der Xhainer Style.
Die Tagesordnung war ähnlich vielfältig wie bei uns. Es gab “Drucksachen” zu Spielcasinos, Parkraumbewirtschaftung und Resolutionen gegen Islamophobie und Antisemitismus. Besonders die letzten beiden Punkte hätten so eins-zu-eins bei uns behandelt werden können.
Der für mich spannendste Tagesordnungspunkt war der zum Brexit. Es gab einen spannenden Schlagabtausch und ich wäre am liebsten aufgesprungen, um selbst eine Rede zu halten. Das wäre dann meine “maiden speech” gewesen. Denn immer wenn ein*e Abordneter* hier seine/ihre erste Rede hält, wird das von der Lord Mayor mehrfach als “maiden speech” angekündigt. Davon gab es gestern einige, da hier im Mai Wahlen waren und seitdem erst einmal getagt wurde. Diese Ankündigung wird meinem Kollegen zufolge gemacht, damit die gegnerische Partei mit dem “maiden speech” haltenden Councillor etwas netter umgeht als mit erfahreneren Verordneten.
Nach der Abstimmung des Brexit-Tagesordnungspunktes hat ein Zuschauer auf der mir gegenüberliegenen Besucherempore eine EU-Fahne ausgerollt. Da gab es gleich große Aufregung, worüber ich nur müde lächeln konnte. Interesse und Protest der Bürger*innen sind die hier irgendwie nicht gewohnt. Ein Gegenbesuch in Friedrichshain-Kreuzberg ist dringend nötig.
Wenn mir die Inhalte zu langweilig wurden, konnte ich von oben immerhin der konservativen Verordneten beim Sticken zuschauen. Sie hatte ein großes Stofftuch mit dem Bild eines Leoparden und eine Plastiktüte voller Garn dabei und hat den gesamten Abend damit verbracht, die Flecken des Leoparden zu sticken.
Um Punkt 22 Uhr war dann Feierabend und alle nicht behandelten Tagesordnungspunkte wurden vertragt. Leider gab es keine Abschlusszeremonie.
Sara Lühmann