LoGo! Europe: Christiane Cittadini berichtet aus Palermo

Kathedrale von Palermo

Kathedrale von Palermo

Christiane Cittadini, Referentin im Stab des Bezirksstadtrates für Soziales und Gesundheit von Charlottenburg-Wilmersdorf und zuständig für das Thema Jobcenter, hospitiert im Spätsommer 2020 für vier Wochen in der Stadtverwaltung von Palermo. Hier ihr Bericht:

Der Süden Italiens, der Mezzogiorno, fängt knapp südlich von Rom an, also eher in der Mitte Italiens. Und mit dem Beginn des Mezzogiorno greifen neben den Vorurteilen des Nordens auch historisch bedingte effektive Unterschiede: eine schlechter entwickelte Infra- und Wirtschaftsstruktur, eine hohe Arbeitslosigkeit, weitgehende Perspektivlosigkeit für junge Menschen, von denen große Teile seit Generationen ihr Auskommen außerhalb der angestammten Heimat suchen. Das betrifft inzwischen auch eine massive Abwanderung hochqualifizierter Menschen in Richtung des reichen Norditaliens und Nordeuropa. Palermo, die fünftgrößte Stadt Italiens, hat mit allen diesen Phänomenen zu kämpfen.

Eine staatliche Grundsicherung für Arbeitssuchende gab es bis vor Kurzem in Italien nicht. In einer fragwürdigen politischen Konstellation wurde das Reddito di cittadinanza eingeführt, nach einigen regionalen Ansätzen eine erste flächendeckende staatliche Unterstützung für Menschen ohne Arbeit. Wie wird die Leistung umgesetzt, wie gestaltet sich Arbeitsvermittlung in einer Umgebung ohne einen wirklichen Arbeitsmarkt? Verändert die Leistung etwas und welche nichtstaatlichen Hilfestrukturen und Initiativen gibt es?

Ich habe mich mit der Idee für LoGo! Europe beworben, dass die angestrebte Arbeitsvermittlung sich etabliert haben würde und war gespannt auf die Entwicklungen. Corona hat den Prozess verzögert und sorgt während meines Aufenthalts dafür, dass viele Ansprechpartner*innen im Homeoffice sind oder Verabredungen wegen Infektionen im Umfeld abgesagt werden.

Meine Arbeit in Berlin bezieht sich als Referentin für das Thema Jobcenter beim Sozial- und Gesundheitsstadtrat grob gesagt auf die Zusammenarbeit und die Aufgaben des Bezirks in Hinblick auf das Jobcenter. Neben organisatorischen Aufgaben des Bezirks als einer der Träger des Jobcenters sind mir die Zusammenarbeit hinsichtlich der vielfältigen Hilfestellungen, die bezirkliche Beratungsstellen den Klient*innen des Jocenters geben können (Sozialdienste, Wohnungssicherung…), sowie die Zusammenarbeit in der Jugendberufsagentur und die zusätzlichen Angebote im Bezirk durch öffentlich geförderte Beschäftigung wichtig.

Die Arbeitsmarktintegration durch die Agentur für Arbeit ist zentral durchstrukturiert und finanziell zumindest in den letzten Jahren gut ausgestattet. Dieses zahlenorientierte stringente System bei einer (vor Corona) niedrigen Arbeitslosigkeit wird u. a. durch Land und Bezirk ergänzt durch den Blick auf Arbeit im Sozialraum, Sozialarbeit und verschiedenste andere Angebote. Die Ausgangslage Berlin-Palermo ist also denkbar unterschiedlich.

Gruppenbild mit Daniela Messina (links) und Massimo Castiglia (3. von rechts)

Erste Woche

Die erste Woche hat bereits mit einer Vielfalt an Eindrücken und Informationen begonnen, die überwältigend war. Daniela Messina, unsere Koordinatorin, füllt Tag für Tag und kontinuierlich unsere Wochenpläne mit neuen Terminen. Sie begleitet uns mit ihrer großartigen sympathischen Art und findet trotz Corona-Abwesenheiten immer neue Ansprechpartner*innen.

Glücklicherweise hat sich Frau Messina neben ihrer eigentlichen Tätigkeit um uns gekümmert und uns in der 1. Circoscrizione gut angesiedelt. Unser Start und erster Kontakt war deshalb auch bei Massimo Castiglia, Presidente della I° Circoscrizione, am besten vergleichbar mit dem Bezirksbürgermeister. Die 1. Circoscrizione umfasst in etwa die Altstadt, das Zentrum Palermos. Sein Büro ist auch unser Anlaufpunkt. Der Umgang ist informell, freundlich und sehr engagiert. Es ist zu merken, wie sehr die Entwicklung und die Menschen des Viertels ihm am Herzen liegen – was bei ihm zu einem hohen Termindruck führt. Interessant ist, dass der Circoscrizione kein eigener Haushalt zur Verfügung steht – Unterstützung und Geld müssen für alle Initiativen immer von der Stadt gefordert werden.

Das Projekt, dem wir zuerst begegnen, wird uns längere Zeit in Palermo begleiten: Im Viertel Albergheria hat sich seit Jahren über mehrere Straßen und Plätze ein täglicher Flohmarkt entwickelt, auf dem sich ein sehr niedrigschwelliges Angebot an allem denkbaren Gebrauchten ausbreitet. Die Händler spiegeln die Vielfalt der prekären Palermitanischen Gesellschaft wider.

Seit Jahren wird nun ein Projekt vorangetrieben, das den Menschen die Verdienstmöglichkeit erhalten soll, aber der zunehmenden Beeinträchtigung des Viertels und seiner Bewohner Rechnung trägt und eine legale Grundlage schafft. Unter den Rahmenbedingungen 1. Erhalt der oft einzigen Verdienstmöglichkeit für die Händler, 2. Beteiligung der Nachbarschaft, 3. Verbesserung des Umfelds und 4. Kreislaufwirtschaft (alt statt neu) wurden erstmals Regeln erarbeitet. Dazu gehören die Einführung von Standgebühren, Reduktion der vom Handel betroffenen Straßen, regelmäßige Reinigung und Aufwertung des zentralen Platzes durch eine Neugestaltung mit Spielplatz für die Anwohner, die sich dann auch um die Pflege kümmern sollen. Gleichzeitig sollen durch das Vorhaben Synergieeffekte mit dem angrenzenden lebendigen und auch durch Touristen besuchten Markt Ballarò hergestellt werden.

Im Laufe der Woche hatten wir die Möglichkeit, zunächst an einer Versammlung der Beteiligten unter Leitung von Massimo Castiglia teilzunehmen, wo es um die Rahmenbedingungen der Vereinbarung ging; an einem anderen Termin wurden mit Hilfe einer durch die Stadt bereitgestellten Mediatorin und Frau Messina als Ansprechpartnerin der Stadt Fragen der künftigen Verantwortlichen verhandelt, die uns an einem weiteren Tag über den Markt führten. Spannend war die – bei aller Armut – große integrative Kraft der Beteiligten: _Wir sehen hier keine verschiedenen Hautfarben, wir denken in langen Zeiträumen und alle Sizilianer haben Wurzeln aus ständiger Zuwanderung – was zählt ist der Stolz und gegenseitiger Respekt._ (Oder wie der Bürgermeister Orlando einmal gesagt hat: In Palermo gibt es keine Immigranten. Alle, die in Palermo leben, sind Palermitaner). Dass das nicht bedeutet, dass nicht viel – vor allem ehrenamtliche – Integrationsarbeit geleistet wird, werden wir bei unserem Aufenthalt noch sehen. Was wir dem Markt nicht ansehen ist, dass z. B. Mengen der gebrauchten und sorgfältig aufgearbeiteten Schuhe in Containern in verschiedene Länder Afrikas verschifft werden (die Auswirkungen auf das lokale Handwerk dort ist hier kein Thema…) und vieles des Krimskrams in Lastwagen nach Tunesien verschifft wird. Und natürlich kaufen Händler aus den besseren Bezirken Ware auf und verkaufen sie zu einem Vielfachen des Preises dort. Was aber sicher zu erkennen ist, ist, dass ein Großteil der Händler hier mit nicht mehr als ein paar Euros nach Hause geht.

Die Neuorganisation des Marktes steht in den Startlöchern, der Verein wird in diesen Tagen gegründet und nach dem Giro d’Italia Anfang Oktober wird die lokale Polizei die Einhaltung der Regeln kontrollieren. Wie bei jeder Veränderung bestehen Ängste und Verärgerungen – ich wünsche den neben ihrem Verkauf engagierten Verhandlungsführern das Beste und bedanke mich besonders bei Giovanni und Grazia für ihre Zeit und ihr Vertrauen.

  • Detail Albergheria

    Im Viertel Albergheria

  • Diskussion Marktprojekt

    Diskussion zum Marktprojekt mit Massimo Castiglia

  • Markt Ballarò

    Markt Ballarò

  • United Colors of Palermo

Via Principe di Granatelli

Stadtteilverbesserung unter einem völlig anderen Gesichtspunkt war Thema unseres Treffens mit Signora Giovanna Zichichi, Architektin der Stadt beim Amt für Arredo urbano e verde, also Stadtmobiliar und Grünflächen. Sie zeigt uns im Viertel Capo verschiedene Straßenbauprojekte, wo mit kleinen Mitteln eine Umfeldverbesserung erreicht werden soll.

Zunächst stellt sie uns die Arbeiten in der Via Principe di Granatelli vor. Unter Beteiligung des Umfelds wurden Pläne entworfen, für die der Verkehr und Parkplätze ausgeschlossen werden, derzeit wird die Pflasterung erneuert. Die Straße, die zum vollständig beruhigten Bereich führt, wird für den Verkehr eingeschränkt, und es sind farbige Markierungen auf dem Asphalt für Fußgänger vorgesehen. Die Wände werden durch Street-Art-Künstler gestaltet und Pflanzkübel und Bänke aufgestellt. Anwohner und angrenzende Geschäfte wurden in die Planung einbezogen und sollen so den Platz gut annehmen und Vandalismus verhindern. Die Straße soll damit von einer dunklen Durchgangsstraße zu einem Ort mit Lebensqualität verändert werden.

In einem etwas nördlicheren Bereich zeigt sie uns die Auswirkungen. Durch Neupflasterung, Bänke und Kübel mit Orangenbäumen und Ausschließen des Durchgangsverkehrs wurde mit relativ kleinem Aufwand eine Zone entwickelt, in der sich in der Folge Cafés und Bars angesiedelt haben – neben mehr Lebensqualität wurde damit auch ein höherer Sicherheitsstandard erreicht. Die kleineren Arbeiten werden von städtischen Arbeitern ausgeführt, die es für Straßenreparaturen, Grünflächen und Kleinprojekte noch gibt. Ansonsten werden Ausschreibungen für die Aufträge durchgeführt. Auf Anregung von Signora Zichichi sehen wir uns noch die Piazza Cassa di Risparmio an, die auch aus einem Parkplatz zu einem Stadtplatz entwickelt wurde.

In ein ganz anderes Arbeitsfeld werden wir mit dem Thema Mediation eingeführt.

Mediation hat sich in Palermo ausgehend von Mediation zwischen minderjährigen Straftätern und deren Opfern auf weitere Bereiche ausgeweitet: Mediation zwischen erwachsenen Straftätern und ihren Opfern und (wieder auf Stadtteilarbeit zurückkommend) Mediation zwischen Nachbarn und im Stadtteil. Hierfür werden Personen im Stadtteil ausgebildet und erhalten später regelmäßige Supervision. Ganz ähnlich geht es beim Einsatz in Schulen vor sich: Zunächst werden immer die gesamte Klasse und die Lehrer bei aktuellen Fällen einbezogen, und es werden auch hier Schüler für Konfliktbearbeitung beauftragt.

Darüber hinaus wurde eine Anlaufstelle für Opfer von Straftaten unter Beteiligung der Sozialbehörden, der Gesundheitsbehörden, der Ordnungskräfte, der Stadt und anderer Beteiligter eingerichtet. Die Mediation Opfer/minderjähriger Straftäter startet immer mit dem Einverständnis des Täters bzw. dessen Eltern und hat keine strafmildernde Wirkung. Erst wenn erkennbar ist, dass der Jugendliche bereit für ein Treffen wäre, wird das Opfer kontaktiert. Der Gewinn liegt darin, dass das Opfer die Gelegenheit erhält, sich mit seiner Opferrolle, dem Täter und dem Warum der Tat auseinanderzusetzen. Der Täter hat viel stärker als über abzuleistende Sozialstunden oder bei schweren Fällen Gefängnis die Gelegenheit, sich damit auseinanderzusetzen, dass die Tat für das Opfer Folgen weit über das Geschehen hinaus hat – in Verunsicherungen, Traumata… Von dieser Erkenntnis kann die Gesellschaft über einen Präventionseffekt für Folgetaten profitieren.

Die Straftaten sind in den letzten Jahren gestiegen, insbesondere durch das Auftreten von Internetkriminalität, Raub der digitalen Identität, Cyberbullying… Trotz der Aufgabenausweitung wurden die Stellen in den letzten Jahren von ursprünglich 33 auf knapp 10 reduziert.

Was in Palermo nicht fehlen kann, ist das Thema Mafia. Auf dem Weg zwischen zwei Terminen kommen wir am Geburtshaus von Paolo Borsellino vorbei. Er war mit Giovanni Falcone einer der beiden Richter, die sich führend den Ermittlungen gegen die Mafia gewidmet haben und 1992 ermordet wurden. In der lange leerstehenden Apotheke der Eltern hatte ein Bruder im Gedenken einen Anlaufpunkt für die Kinder des eher ärmeren Viertels eingerichtet. Neben der Möglichkeit, einen Anlaufpunkt zu finden, werden u. a. Computerkurse angeboten, Reisen organisiert und Stipendien finanziert. Die Nichte Borsellinos, die uns das Projekt erläutert, weist darauf hin, dass die Familie für dieses Projekt bewusst auf staatliche Hilfe verzichtet. Nach dem Attentat sind vom Tatort wichtige Unterlagen verschwunden, so dass eine Rolle staatlicher Stellen bei der Tat diskutiert wird. Als Symbol dient eine Nachbildung des roten Notizbuchs Borsellinos, das er stets bei sich trug und in dem er zentrale Ermittlungsergebnisse zu Beziehungen und Beteiligungen an der Mafia festhielt. Dieses Buch blieb nach dem Mord vom Tatort verschwunden.

  • Apotheke Borsellino

    Apotheke Borsellino

  • Borsellino

Direkt hinter der Kathedrale beginnt das Viertel Capo, in dem aus europäischen Mitteln seit einigen Jahren in einem Bereich um die Piazza Beati Paoli mit dem Schwerpunkt auf Einbeziehung Jugendlicher ein Quartiersmanagement finanziert wird. Weitere vier Städte in Europa sind Teil des Programms – u. a. Berlin mit dem Mehringplatz.

Enge Gassen, Wäsche hängt zum Trocknen, kleine Geschäfte, Motorini – ein lebendiges, buntes Viertel der Palermitaner mit hoher Arbeitslosigkeit, vielen kleinen Jobs “a nero” (Schwarzarbeit) und steigenden Mieten, da die Touristen das Gebiet entdecken. Der traditionelle Markt schrumpft wegen der Supermärkte und nimmt zunehmend souvenirgeeignete Artikel auf. Das Quartiersmanagement versucht den Menschen hier Gehör zu verschaffen, versucht herauszubekommen, wo die Probleme gesehen werden, welche Maßnahmen möglich sind. Es wurden Initiativen erarbeitet wie ein Open-Air-Kino für die Nachbarschaft, ein Empowerment und Bewusstsein der Jugendlichen für ihren Stadtteil, Gesichter des Stadtteils über kleine Videos lokaler Handwerker… Ein Atlas der Gegend im Netz zeigt lokale Besonderheiten und stellt Orte und Personen aus dem Quartier vor. Bewusstsein und Unterstützung bei selbst entwickelten Ideen sollen das Viertel stabilisieren, mit den Jugendlichen Perspektiven erarbeitet werden. Anders als in Berlin gibt es keine direkte Anbindung an den Bezirk. Die Antwort auf meine Frage, ob nicht die neue Grundsicherung auch stabilisierend neues Geld in das Quartier bringt, ist sehr aufschlussreich: das “Reddito di cittadinanza” wird als eine Art Bankkarte ausgereicht, so dass es nur in etablierten Geschäften ausgegeben werden kann – das schwächt die niedrigschwellige Infrastruktur aus Markt, Streetfood, Kleingewerbe. Genauso werden zunehmende Regulierung und der sich ausweitende Tourismus nicht unbedingt positiv gesehen. Das Quartier wird mit seinen Strukturen, so wie es funktioniert, angenommen und soll in seiner Eigenart gestärkt werden. Schon in der Albergheria wurde betont, wie viel die Menschen arbeiten müssen, um sich ein minimales Einkommen zu sichern.

Das Viertel – so zentrumsnah und bunt – wird sich in seinem Charakter behaupten müssen gegen den Städtetourismus, der am Ende die Dinge, die er sucht, zerstört. Die Einführung von Fußgängerbereichen im Zentrum der Stadt hat eine ganz neue Lebensqualität gebracht und den Tourismus belebt. Dass dieser Tourismus die Lebensräume, die wir jetzt besuchen, zerstören kann und zu Verdrängungseffekten führt, ist bereits um die großen beruhigten Straßen gut zu sehen, wo das Angebot beliebig wird, und auch im Viertel La Kalsa, in dem ich zwischen vielen spannenden Bars mit lautstark-lebendigen Leuten in einem airbnb wohne. Den Lebensmittelladen und die Bäckerei muss ich dagegen suchen.

  • Stadtteilmanagement im Viertel Capo

    Stadtteilmanagement im Viertel Capo

  • Markt in Capo

    Markt in Capo

  • Platz in Capo

    Platz in Capo

Freitag steht der Besuch bei Leoluca Orlando, dem Bürgermeister Palermos, an. Er hat gerade diese Woche ein Misstrauensvotum mit nur einer Stimme Mehrheit überstanden. Leider wird kurzfristig abgesagt, so dass sich Daniela Messina mit ihrem unglaublichen Wissen über die Kultur und die Projekte mit uns noch einmal dem Viertel Albergheria widmet. Von den Bereichen Palermos, die wir bisher gesehen haben, ist hier der Anteil an Migrant*innen höher – hier war das erste Sozialzentrum für Geflüchtete und hier finden sich niedrige Mieten. Wir besuchen moltivolti, ein soziales Unternehmen, das sich mit Restaurant, Co-Workingspace und Versammlungsort als Verbindungspunkt der Kulturen sieht – der Speiseplan ist multiethnisch, und wie es der Name “molti volti” (viele Gesichter) schon andeutet, kommen hier entspannt und selbstverständlich Menschen zusammen. Die unterschiedliche Herkunft ist Bereicherung. “La mia terra è dove poggio i miei piedi” (mein Land ist da, wo meine Füße stehen) ist das Motto. Ein wichtiger Ansatz sind Vernetzung und Perspektive: die Arbeits- und Begegnungsmöglichkeiten fördern gegenseitiges Verständnis, Sprachkenntnisse und Integration.

Wir kommen vorbei an kirchlichen Initiativen und dem Centro Astalli, das neben Wohnmöglichkeiten eine Kleiderkammer, Sprachkurse und Beratung für Arbeitsintegration anbietet. Der Tag beginnt dort mit einem Frühstücksangebot und Gesprächsmöglichkeit.
Einen Spaziergang durch dieses Thema bietet übrigens auch eine ARTE-Reportage aus 2018: “Italien: Palermo ist anders”, nach dem Untertext nur noch bis zum 04.10.2020 verfügbar und empfehlenswert.

  • Projekt moltivolti
  • Mein Land ist da, wo meine Füße stehen

    Mein Land ist da, wo meine Füße stehen

Und für uns beginnt bei immer noch 30 Grad am späten Nachmittag das Wochenende. Um das “uns” hier kurz aufzulösen: Ich bin mit einem Kollegen aus Reinickendorf unterwegs, der mit mir Sozialprojekte besucht und ich mit ihm Straßenbauprojekte – auch das ist vielleicht Kulturaustausch.

  • Fontana

    Fontana Pretoria auf der Piazza Pretoria

  • Cappella Palatina, Hofkapelle des Palazzo dei Normanni und Teil des UNESCO-Weltkulturerbes

    Cappella Palatina, Hofkapelle des Palazzo dei Normanni und Teil des UNESCO-Weltkulturerbes

  • Stanza di Ruggero im Palazzo dei Normanni

    Stanza di Ruggero im Palazzo dei Normanni

  • Strand von Mondello

    Strand von Mondello

  • Blick in ein Haus an der Piazza Marina

    Blick in ein Haus an der Piazza Marina

  • Cassata alla siciliana (Schichttorte)

    Cassata alla siciliana (Schichttorte)

Aufsteller für Arbeitsberatung in der Casa dei diritti

Zweite Woche

Bereits am Wochenende hatten wir die Möglichkeit, die Aufführung eines Kurzfilms der sozialen Theatergruppe Danisinni zu sehen – aufgrund von Corona wurde statt Theateraufführungen dieser sehenswerte Film erstellt. Die Theatergruppe ist im Gebiet Danisinni angesiedelt und unterstützt dort die Entwicklung des Randgebietes.

Die zweite Woche startet mit einem Besuch bei Laura Nocilla, Sozialarbeiterin in der “Casa dei diritti” (Haus der Rechte), die erst im Januar dieses Jahres eröffnet wurde. Ursprünglich als Anlaufpunkt für die Betreuung unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter gedacht, wurde die Idee im Vorfeld vergrößert als Anlaufpunkt für alle, die sich Benachteiligungen ausgesetzt sehen. Sie sollen Beratung erhalten und Hilfe bei der Durchsetzung ihrer Rechte. Hier sollten kommunale Strukturen und nichtgewinnorientierte Sozialinitiativen (dritter Sektor) mit ihren Angeboten zusammenarbeiten. Unter anderen geht es um Diskrimination am Arbeitsplatz z. B. bei LGBTI, um die Durchsetzung der Rechte von Immigranten, um Beratung für die Eingliederung in den Arbeitsmarkt… Die beginnende Arbeit und auch die Zusammenarbeit mit den verschiedenen Behörden wurde durch Covid abrupt gestoppt, und während die Beratung im erlaubten geringen Maß wieder aufgenommen wird, scheitert der Kontakt zu den Verwaltungsstrukturen völlig. Zu den vielen Problemfeldern, die uns Laura Nocilla engagiert schildert, gehört u. a. ein Vorlauf von Monaten, bevor eine Anmeldung gelingt. Ohne diese Anmeldung besteht kein Gesundheitsschutz und kein Zugang zu wichtigen Rechten. Ähnlich wie in Deutschland wird die Eingliederung in Arbeit von Geflüchteten durch nicht vergleichbare und nicht anerkannte (Schul-)Abschlüsse erschwert. Sie schildert außerdem, dass das verzerrte Narrativ in den Sozialen Medien über Migration die Stimmung in Palermo verändert. Hinsichtlich der Angebote und Vermittlungsarbeit beim Bürgergeld (“Reddito di cittadinanza”) befragt, das in den Arbeitsmarkt, aber auch in Sozialprojekte führen sollte, konnte sie bisher keine Initiativen oder Kontaktaufnahmen erkennen. Eine Zusammenarbeit müsste am Ende durch die Circoscrizioni eingefordert werden.

Ein weiterer Termin fand beim “Assessorato Cittadinanza Solidale statt”. In diesem kommunalen Büro sind alle sozialen Dienstleistungen zusammengefasst – von Leistungen für Menschen mit Behinderungen, für alte Menschen, Familien, Kinder und Jugendliche, Immigranten… Ich konnte in der Beschreibung der Dienstleistungen viele Parallelen finden – sei es in individuellen Hilfeplanungen und Leistungen für Menschen mit Behinderungen, die die Leistungen der Gesundheitsbehörde der Region ergänzen, der Übergabe von Kindern in Pflegefamilien oder Adoptionsbetreuung, der Begleitung von Minderjährigen während Scheidungsprozessen, in der Suche nach sinnvollen Unterbringungen für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge in Wohngemeinschaften und der Suche nach Freiwilligen, die sich weiter integrativ mit ihnen beschäftigen… Wie auch bei uns ergeben sich Probleme, wenn diese Jugendlichen aus Altersgründen die Strukturen verlassen sollen, aber z. B. keine Wohnung finden oder hier sogar den Aufenthaltsstatus verlieren. Der Kontakt zu verschiedenen Mediationsstellen ist ebenfalls in dieser Sozialbehörde angesiedelt. Das Aufgabenfeld ist überwältigend und umfasst vergleichbar mehrere Ämter bei uns.

Während des Lockdowns gab es viele Menschen, die von kleinen Dienstleistungen leben und in Not geraten sind. Für diese wurden Notfallhilfen über Lebensmittelgutscheine ausgegeben. Im Gegensatz zu den sonstigen Sozialleistungen wurden diese nicht von den üblichen Voraussetzungen wie Aufenthaltsgenehmigung oder Anmeldung abhängig gemacht.

Außerhalb des Zentrums, in dem wir uns weitgehend bewegen, liegt das Büro des “Assessorato Attività Produttive” – es ist zuständig für Gewerbe- und Unternehmensanmeldungen. Kleingewerbe ist ein wichtiger Einkommenszweig in Palermo, und die gesetzlichen Vorgaben machen das Antragsverfahren aufwendig und langwierig. Zum “Reditto die cittadinanza” kann mir hier erläutert werden, dass der Bereich der Arbeitsvermittlung mit der Auswahl der Arbeitsvermittler, der “navigatori”, später als vorgesehen gestartet ist. Das Problem, das sich von vornherein stellt, ist, wie in einer Region ohne Arbeit Arbeit vermittelt werden soll. Schwerpunkt sind für junge Menschen daher zunächst Fortbildungsangebote in Bereichen wie z. B. Landschaftspflege, Gastronomie, Büroarbeit etc. Sie sind aus Europäischen Strukturfondsmitteln finanziert, beispielsweise aus den Fondi PON des Bildungsministeriums. Die Behörde selbst hat einige Beschäftigungsmöglichkeiten eingerichtet für die Aufarbeitung des Archivs.

Auch diese Woche haben wir das Marktprojekt begleitet, und es wurde uns deutlich, dass es hier um einen langwierigen Prozess geht, in dem über wiederholte integrative Gespräche die lokalen Akteure gestärkt werden müssen. Unsere Vorstellung einer Art Projektplanung (was ist zu tun, wer ist dafür bis wann zuständig) wird nur für die unmittelbar notwendigsten nächsten Schritte angewendet. Ein interessanter Diskussionspunkt war, wie die weitgehend inoffiziellen Strukturen der Marktteilnehmenden in die neuen offiziellen Vereinsstrukturen eingegliedert werden können – natürlich haben die wenigsten eine Gewerbe- oder Mehrwertsteueranmeldung. Viele haben noch nicht einmal eine Anmeldung für den Wohnort, und von den migrantischen Teilnehmenden fehlt häufig die Aufenthaltserlaubnis. Die Wichtigkeit der Anmeldung ist uns wiederholt begegnet. Eine der Circoscrizione bekannte und als Weg aus Notsituationen geduldete/unterstützte Umgehungslösung ist das Angebot einer Sozialinitiative von Anmeldung an einem fiktiven Wohnort. Darüber hinaus werden Bescheinigungen über (angeblich) mietfreies Wohnen anerkannt, um die Grundversorgung sicherzustellen. Der Markt kann über das Heranführen an Anmeldung, einen Nachweis eines Einkommens als Vereinsmitglied, darüber ggf. einen Aufenthaltsstatus… einen sozialintegrativen Effekt haben. Die Arbeit des Bezirks ist hier nah an den tatsächlichen Bedürfnissen des Stadtteils.

Büro für das Car- und Fahrradsharingsystem der Verkehrsbetriebe

Beschlossen haben wir die Woche bei über 30 Grad bei einer Rundfahrt mit Architektin Silvana Chirco von der Verkehrsbehörde der Stadt über das Fahrradnetz der Stadt bis in den Vorort Mondello. Die Fahrräder stammten aus dem öffentlichen Leihsystem der Verkehrsbehörde – leider fehlten mobile Abschließmöglichkeiten außerhalb der festen Leihstationen und eine Klingel. Das Thema Fahrrad ist sichtbar nicht so hoch wie in Berlin angesiedelt, die Akzeptanz oder Wahrnehmung von Fahrradwegen bei Autofahrern und Fußgängern ist eher niedrig. Ähnlich sind eher lange Planungsvorläufe und Diskussionen über den Verlust von Parkplätzen. Wegen langer Vorläufe werden einige gute Provisorien eingerichtet, bevor Wege mit eigener Ampelschaltung und Überfahrungsbegrenzungen genehmigt sind. Aufgefallen ist uns in Palermo allerdings sofort ein Effekt eines im Mai eingeführten Kaufbonus der Regierung für Elektrokleinfahrzeuge, um im Zuge von Covid eine Vermeidung der öffentlichen Verkehrsmittel zu ermöglichen: es gibt unzählige breitbereifte Elektrofahrräder und Elektroroller, die zunehmend die lauten Mofas ersetzen – eine eindeutige Umfeldverbesserung.

Dritte Woche

Die Woche startet mit dem Besuch im “Ufficio Città Storica”. Architetto Salvatore Giardina führt uns in die Stadtentwicklung Palermos über die Jahrhunderte ein. Das speziell für die Entwicklung der Altstadt eingerichtete Büro hatte nach einer längeren Periode der Konzentration auf Neubau und Stadterweiterung nach Norden (ca. 1950-1990) und damit der weitgehenden Vernachlässigung und Entvölkerung eine Wende auf eine Neubewertung des Stadtzentrums eingeläutet. Es fasste verschiedene beteiligte Ämter zusammen, um eine gute Zusammenarbeit zu erreichen. Er erläutert anschaulich die Planungen, Probleme und Ziele der Bauplanung. Es erschließen sich damit besser gewachsene Strukturen, Stärken und Probleme in den Vierteln und die Vorhaben der nächsten Jahre.

Diese Informationen werden sehr gut ergänzt bei unserem Besuch im städtischen Amt für Mobilität. Silvana Chirco, die wir bei der Besichtigung der Radwege bereits kennengelernt hatten, zeigt die Planungen der nächsten Jahre, und ihr Kollege ergänzt dies mit der Darstellung der Wiedereinführung der Tram – die in den Zeiten der autogerechten Stadt aus der Innenstadt verbannt worden war – auf den zentralen Verkehrsverbindungen unter Ausschluss des jetzt dort starken Autoverkehrs. Im Wege der Nachhaltigkeitsstrategie ist der Verkehr für Palermo eine große Aufgabenstellung hin zu einer lebenswerten Stadt.

Stadtrat Paolo Petralia

Am Dienstag nimmt sich Assessore Paolo Petralia, Palermos Stadtrat für Jugendpolitik, Sport, Innovation, Tourismus und internationale Zusammenarbeit Zeit für eine ausführliche Darstellung seiner derzeitigen Schwerpunkte der Arbeit und Ziele. Er ist mit 26 Jahren erst Anfang des Jahres vereidigt worden und war in verschiedenen europäischen Ländern tätig. Besonderen Wert legt er in Palermo auf den Ausbau digitaler Angebote. Zahlreiche Dienstleistungen der Stadt sind digital abrufbar, ein weiterer Ausbau ist ihm ein Anliegen. In Italien hat Palermo den höchsten Grad an Abdeckung mit Glasfaserversorgung für Internet erreicht. Damit diese Angebote auch genutzt werden können, werden Fortbildungskurse angeboten. Letzte Woche hat die Digital Business Week stattgefunden, bei der es um Austausch zu den unterschiedlichsten Möglichkeiten und Problemen ging – von digitaler Arbeit über digitale Unterstützung in der Mobilität bis zu Lösungsmöglichkeiten des Müllproblems über digitale Kontroll- und Erfassungsmöglichkeiten. Aus Corona geht das Thema digitales Arbeiten gestärkt hervor. Im Bereich Arbeit ergibt sich das Problem, dass wegen der hohen Jugendarbeitslosigkeit von über 50 Prozent in Palermo eine große Arbeitsemigration in den Norden stattfindet. Während Corona sind viele dieser jungen Menschen nach Palermo zurückgekehrt. Die Stadt entwickelt in eigenen Gebäuden Co-Workingspaces für diese Menschen und versucht Kooperationen zu den Arbeitgebern in Norditalien herzustellen. Es ist der Versuch, durch digitales Arbeiten die Auswanderung weiter Teile der jungen Palermitaner zu vermeiden; das Schlagwort ist “Southworking” – Arbeiten aus dem Süden. Die Entstehung von Arbeitsplätzen wird ansonsten allein schon durch die schlechte Infrastruktur in Sizilien erschwert – sowohl Zuglinien als auch Straßen sind völlig veraltet. Den tiefgreifenden Wandel Palermos hin zu einer Stadt, die sich von der Mafia abgrenzt, innovativ, sicher und integrativ ist, sieht er als eine der ganz großen Entwicklungen in Sizilien der letzten Jahrzehnte.

Gruppenbild mit Palermos Bürgermeister Leoluca Orlando (2. von rechts). Links Paolo Petralia und Daniela Messina, rechts Martin Pölemann, Kollege aus Reinickendorf.

Ein weiterer herausragender Termin ist das Treffen mit Palermos Bürgermeister Leoluca Orlando, auf dessen Engagement die große Veränderung Palermos letztlich zurückzuführen ist. Er hatte seit 1985 mehrfach (mit Unterbrechungen) das Bürgermeisteramt inne. Er erläutert uns sein ganz großes Anliegen, grenzübergreifend und integrativ zu denken und überreicht uns die “Charta von Palermo – Von der Migration als Problem zur Mobilität als unveräußerliches Menschenrecht” von 2015.

Wieder stark “an der Basis” treffen wir Marco Gutilla, Koordinator des Projektes “Dimora! PON Metro”, der sich mit seiner Assoziation um die Betreuung von Obdachlosen kümmert. Die Anzahl hat sich mit Corona erhöht, da viele Immigranten von kleinen Arbeiten lebten und direkt an der jeweiligen Arbeitsstelle schliefen. Im Wechsel sind jede Nacht zwei Initiativen unterwegs, um Wohnungslose aufzusuchen, Essen zu verteilen, nach den Bedürfnissen zu fragen und einfach Kontakt zu halten. Es gibt bei weitem nicht genug Schlafstellen in Obdachloseneinrichtungen; die Stadt hat eine Einrichtung mit etwas mehr als 20 Betten, mit anderen Einrichtungen kommen noch etwa 120 Betten dazu. In einem Projekt, in dem verschiedene Träger zusammenarbeiten (u. a. Caritas und Rotes Kreuz), werden mit Mitteln der EU mit Wohnungslosen über einen längeren integrativen Prozess die multiplen Problemlagen aufgearbeitet, wird versucht, eine Stabilisierung zu erreichen. Im Prinzip soll über _Housing First_ gearbeitet werden (zunächst Versorgung mit echtem Wohnraum, von dort aus Betreuung zur Lösung der Problemlagen), allerdings gibt es nicht genügend Wohnraum. Es wird daher noch überwiegend aus den Schlafplätzen heraus gearbeitet; in der Regel wird von einer Begleitung über ein halbes Jahr ausgegangen. Das Problem Wohnungen hängt stark mit der unzureichenden Einkommenssituation vieler Palermitaner zusammen – wenn die Vermieter befürchten müssen, dass die Miete nicht gezahlt werden kann, lassen sie häufig eher Wohnungen leer stehen als zu vermieten. In der Begleitung der Menschen ist der Schritt hin zu grundlegenden Ansprüchen die virtuelle Anmeldung. Wenn Menschen sich auf das Programm einlassen, bescheinigt die Initiative der Kommune, dass die Wohnungslosen seit drei Monaten bekannt sind und im Programm weiter betreut werden. Daraufhin akzeptiert die Kommune die Anmeldung an einer nicht existenten Adresse. Im halbjährlichen Turnus wird nachgefragt, ob die Angaben noch zutreffen und diese Anmeldung aufrechterhalten werden kann. Mit der Anmeldung sind grundlegende Ansprüche für eine weitere Stabilisierung gegeben.

Zu seinen Erfahrungen zum “Reddito di cittadinanza” befragt, sieht er darin ein Stabilisierungsmittel – insbesondere für eine Mietzahlung –, das aber nicht allen zusteht. Von der Arbeit der Arbeitsvermittler hat er keinerlei Information oder Kontakt, und auch der überwiegende Anteil der von ihm betreuten Menschen hat keine Betreuung und Beratung erfahren. Lediglich in einem Fall hat er Kenntnis von einem Termin in einem halben Jahr, bei dem letztlich ein Lebenslauf erstellt wurde – ein Angebot, das die Initiative selber vorhält.

Auch bei einem weiteren Treffen mit Massimo Castiglia bestätigt dieser, dass auch in der Circoscrizione keine Initiative zu einer Zusammenarbeit bekannt wäre. Bei meinen Nachfragen bei den verschiedenen Terminen wird auch immer wieder darauf verwiesen, dass die Arbeitsvermittlung national geregelt wird und zu den Kommunen eher keine Verbindung besteht.

Im “moltivolti” besuchen wir die Präsentation eines Projektes, mit dem Rettungsschiffe der Flüchtlingshilfe mit Büchern für Kinder ausgestattet werden. Die Kisten enthält neben einem kleinen Teppich und z. B. Wachsmalstiften vor allem Kinderbücher ohne Text – in der Forschung hat sich herausgestellt, dass die z. T. traumatisierten Kinder beim Betrachten der ruhigen Bilder eine Rückzugsmöglichkeit aus der Situation finden. Auch die Marktinitiative begleiten wir in dieser Woche weiter.

Treffen mit SEND (links Elena Milio und Ousman Drammeh)

Ein interessanter Kontakt ist der Termin mit der Organisation SEND, mit Elena Milio und Ousman Drammeh. SEND kümmert sich um Arbeitsvermittlung, Praktika für die Integration in den Arbeitsmarkt, internationale Kontakte, Praktika über das Erasmus-Programm und vieles mehr. Ousman Drammeh ist bei dem Programm “in gioco” von SEND einer der ausgebildeten Ansprechpartner und Kulturhelfer, die Beratung insbesondere für Migrant*innen an verschiedenen Punkten der Stadt anbieten. Einer der Schwerpunkte der Beratung ist es, Möglichkeiten und Wünsche zu er- und zu vermitteln und Schulabschlüsse anzustreben, die dann in Beruf und Studium münden können.

SEND richtet sich mit ihren verschiedenen Programmen ansonsten an alle Bevölkerungsgruppen und Altersstufen. Die Organisation versucht sich im Bereich der nichtstaatlichen Hilfestrukturen und der Kommune gut zu vernetzen. Mit der auf Ebene der Region Sizilien und auf nationaler Ebene organisierten Arbeitsverwaltung und auch mit den Arbeitsvermittlern des “Reddito” gibt es keine Kontakte. Die Arbeitsvermittler des “Reddito di cittadinanza” sind nach einem Auswahlverfahren ohne spezifische Erfahrung in Arbeitsvermittlung eingestellt worden und müssen nach ihrer Einschätzung größtenteils ohne eine sie unterstützende Struktur und auch ohne echte Unterstützung aus der traditionellen Arbeitsvermittlung arbeiten. Eine Rolle in der Arbeitsvermittlung in Palermo spielen sie nicht. Ein echter Mehrwert könne sich nur ergeben, wenn die gesamte Arbeitsverwaltung neu organisiert würde. Unser Treffen mussten wir kurzfristig in ein Café verlegen, da das Gebäude der Circoscrizione wegen eines Corona-Falls aufwändig desinfiziert wurde.

Über Monreale

So beenden wir die Woche zusammen mit einem Rechtsanwalt aus der Toskana bei Daniela Messina auf ihrer Terrasse in Monreale. Er erläutert uns die Sozialgerichtshilfe und das System der Übertragung der Vormundschaft für junge Geflüchtete auf Freiwillige, die eine kurze Ausbildung hierfür erhalten. Die bessere Entwicklung und Integration dieser individueller begleiteten jungen Menschen sei sichtbar. Unser Programm wird an die Möglichkeiten und unsere Wünsche angepasst und wir starten schon mit einer guten Portion Wehmut in die letzte Woche.

Vierte Woche

Im “Assessorato Cittadinanza Solidale”, der kommunalen Sozialbehörde, erfahre ich von Dr. Carla Corolla viel über die Pläne zur Begleitung der Bezieher*innen des “Reddito di cittadinanza”. Es wurden zwei Stränge der Herangehensweise gebildet: Auf Seiten der Arbeitsverwaltung der Region Sizilien wurden die Navigatori (Arbeitsvermittler*innen) eingestellt und auf Seiten der Stadtverwaltung stehen Sozialarbeiter*innen zur sozialintegrativen Begleitung bereit. Diese sind bereits aus zuvor bestehenden Mitteln zur Unterstützung von Familien aktiv. Es wurden Mittel für eine Aufstockung zur Verfügung gestellt, allerdings fehlen auch Büros zur Unterbringung. Das “Reddito di cittadinanza” erfasst mehr Personen und ist höher als die Vorgängerleistung. Die betreuten Personen werden bisher in zwei verschiedenen Datenbanken erfasst, was die Arbeit erschwert, zumal die Datenbank der Arbeitsverwaltung die Untergliederung Palermos in Bezirke nicht berücksichtigt. Mit den Arbeitsvermittlern hatte es erste Absprachen zur Zusammenarbeit gegeben, allerdings sind alle Gesprächsformate durch Covid gestoppt worden.

Zur Eingliederung gibt es verschiedene Aus- und Fortbildungsprogramme; es sollte eine fiktive Firma zum Training und zur Arbeitserprobung geschaffen werden. Besonderes Augenmerk sollte auf Schulvermeider gelegt werden, damit ein Schulabschluss gesichert wird. Dr. Corolla erwähnt auch die schwierige Rolle der Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Bei traditioneller Rollenverteilung entscheiden sich viele angesichts ungesicherter Arbeitsverträge ohne Aussicht, wieder in den Beruf einzutreten, und fehlender Kinderbetreuung gegen ein Kind, was sich in niedrigen Geburtenraten niederschlägt.

Es sind erste Arbeitsprojekte auf den Weg gebracht worden mit Beschäftigungen, die nützlich für die Gesellschaft sind und zu denen Bezieher*innen der Unterstützungsleistung verpflichtet sind. Bisher sind dies z. B. Hygienemaßnahmen und Sicherstellung der Abstände in Schulen hinsichtlich Covid, geplant sind Unterstützungen in Bibliotheken, im Stadtgrün u. Ä. Die Projekte werden nicht über eine Trägerlandschaft betreut, sondern direkt durch die Einsatzstellen – die Gelder sind knapp ausreichend für die anzuschaffenden Geräte und Verbrauchsmittel. Eine langfristige Planung wird durch jeweils nur kurzfristig zur Verfügung stehende Mittel verhindert. Derzeit stammen sie aus einem Einführungsfonds, der dann in reguläre Haushaltsmittel übergeht.

Die Geldleistung war in der Zeit der Schließung wegen Covid eine wichtige soziale Unterstützung. Sie hilft auch älteren Menschen in der Überbrückung bis zur Rente. Ansonsten sei in Höhe und Anlage der Leistung darauf zu achten, dass sie nicht die Eigeninitiative zur Arbeitssuche vermindert. Die aufkommende Diskussion, dass der Anteil der Arbeitsintegration des Programms gescheitert sei, sieht sie als falsch und ungerecht an, da der Aufbau der neuen Struktur seine Zeit braucht. Die neuen Beschäftigten müssen ausgebildet werden, die Programme in einer Zusammenarbeit entwickelt und erprobt werden – alle diese Entwicklungen wurden durch die Pandemie entscheidend aufgehalten.

Weitere Treffen konnten durch einen Corona-Fall im Dienstgebäude dort nicht stattfinden. Frau Messina hat uns stattdessen die Pläne des “Progetto Agenda Urbana” im Stadtbild erklärt. Es geht um hohe Infrastrukturmittel der EU, über die urbane Infrastruktur und Tourismus gefördert werden. Die Stadt Palermo hat unter Zusammenwirken verschiedener Büros, die wir zum großen Teil kennengelernt haben, einen großen Tourismusplan entwickelt, in den Erneuerung des ÖPNV, Elektromobilität, Stadtgrün und Projekte der Smart-City wie Sitzbänke mit Ladefunktion für Handys oder QR-Codes zur Orientierung in der Stadt etc. mit einbezogen werden. Zum Bedauern des Bezirks konnten aufgrund der Fördervorgaben die Mittel nicht genutzt werden, um die Bewohner oder Sozialräume mit kleinen Aktivitäten einzubeziehen.

Consiglio in strada

Noch einmal interessant hinsichtlich der sehr bürgernahen Arbeit des Altstadtbezirkes war der “Consiglio in strada” im Kalsa-Viertel. Die durch Massimo Castiglia in regelmäßigen Abständen in verschiedenen Bereichen des Bezirks einberufene Bürgerversammlung soll Anwohner*innen, Geschäftsleuten und Verbänden die Möglichkeit geben, sich zu Wünschen und Problemen zu äußern. In Voraussicht der Themen waren der Geschäftsführer der Stadtreinigung, Palermos Stadtrat für Digitales, Jugend und Tourismus und der Vizebürgermeister Palermos anwesend. Die Themen der spontanen Wortmeldungen waren vor allem die Müllsituation, die feiernden jungen Menschen in den vielen neu entstandenen Bars und die Schwierigkeiten bei der Entwicklung eines Gemeinsinns in den heterogenen Nachbarschaften. Die Versammlung wurde im Nachgang dazu genutzt, Kontakte auszutauschen und so Themen weiter zu bewegen.

Garten und Wandgemälde in Danissini

Einen neuen Sozialraum mit einer großen Anstrengung für eine Verbesserung lernten wir zum Abschluss im Stadtteil Danissini kennen. Danissini liegt außerhalb des Zentrums und ist nur über eine einzige Zufahrt zu erreichen. Durch die Schließung eines Sozialangebots mit Ärzten, Kindergarten und Schule ist das gesamte Viertel von wichtigen Versorgungen abgeschnitten. Dank einer sehr breit aufgestellten Initiative aus ortsansässiger Kirche, einem sozial engagierten Verein und in Einbeziehung verschiedenster Akteure wird dort ein großes Kulturprojekt entwickelt. Ein Jugendlicher, der Sozialstunden abzuleisten hat, ist in das Projekt integriert. Eine große Brache wurde in eine landwirtschaftliche Fläche umgewandelt, es wurde eine Bibliothek aufgebaut, es werden derzeit Zimmer für Touristen hergerichtet… und vor Corona wurde Schulessen organisiert. Über gutes Netzwerken konnten Architekten der Universität für ein Gutachten über die Wiedereröffnung des Gebäudes für Sozialangebote gewonnen werden. Das Projekt hat u. a. auch bereits Kontakte zum Goethe-Institut aufgenommen. Die geschichtlich auf einer wichtigen arabisch-normannischen Stadtachse gelegene und mit der Zeit in Isolation geratene Gegend wird so wieder in das Bewusstsein der Stadt gerückt und an Sozialstrukturen angebunden.

Wir konnten die Woche auch nutzen, um uns von dem Marktprojekt zu verabschieden – einige wichtige Schritte ist es wieder vorangegangen.

Nach den vier Wochen möchte ich mich auch hier noch einmal bei Daniela Messina bedanken – sie hat in einer schwierigen Zeit wichtige Kontakte hergestellt, war immer an unserer Seite und hat uns die Stadt verstehen lassen. Ich habe Integrationsarbeit nahe an den Bedürfnissen der Menschen in einer großen Vielfalt kennengelernt, viele engagierte Menschen und viele Initiativen zur Stadt- und Sozialraumentwicklung, die Voraussetzung für eine Verbesserung der Lebenssituation und Entwicklung von Perspektiven für die Bewohner*innen ist. Danke, Daniela!