Nach einer schnellen Anreise per Flugzeug konnte ich abends mein voll ausgestattetes Apartment beziehen; ich hatte mir eine Unterkunft ausgesucht, die auch in dem Bezirk liegt, in dem ich meine Hospitation beim Jugendamt machen sollte. Neben einem kurzen Arbeitsweg konnte ich mich dadurch zugleich in den lokalen Kiez einfühlen.
Der 15. Bezirk von Wien (insgesamt gibt es 23), Rudolfsheim-Fünfhaus, ist rund um den Wiener Westbahnhof angesiedelt. Meinem Wunsch, dass ich gerne in einem sozialen Brennpunkt tätig werden wollte, war somit entsprochen worden: dieser Jugendamtsbezirk gilt als der ärmste von ganz Österreich, hat eine hohe Arbeitslosenrate und hat den höchsten Ausländeranteil von Wien. Allerdings hatte ich, ausgehend von Berliner Verhältnissen, eher eine Art von Bronx erwartet und war sehr überrascht, dass es sich um ein recht bürgerliches, ansehnliches Viertel handelt; auf Anhieb waren jedenfalls keine sozialen Auffälligkeiten zu erkennen. Auf knapp vier Quadratkilometern wohnen hier ca. 80.000 Menschen. Die Infrastruktur ist gut ausgeprägt; selbst eine der Haupteinkaufsstraßen von Wien, die Mariahilfer Straße, ist fußläufig erreichbar.
Im Jugendamt wurde ich ausgesprochen freundlich empfangen; alle Kolleginnen und Kollegen, inklusive der Leitungsebene, waren gleich per “Du” mit mir. Ich bekam ein eigenes Zimmer zugeteilt und hatte sofort über den Computer Zugriff auf alle Daten des gesamten Wiener Jugendamtes. Michaela und Daniel stellten sich mir als meine Begleiter für die Praktikumszeit vor; ich bekam zunächst einen Überblick sowohl zur Organisationsstruktur als auch zu den Feinheiten des internen Programms geboten. Die elektronische Akte ist hier bereits Realität; jedoch wird auch erwartet, dass alle erfolgten Schritte in der Fallbearbeitung sehr genau dokumentiert werden – dies erfordert eine umfangreiche Präsenz am Computer und geht somit zu Lasten der sozialen Arbeit mit den Menschen.
Für mich war fachlich gesehen besonders interessant, dass die Kinderrechte entsprechend der UN-Kinderrechtskonvention seit 2011 sogar in die Verfassung der Republik Österreich eingefügt wurden und somit einen sicheren rechtlichen Rahmen für die Durchsetzung des Kinderschutzes in der alltäglichen Arbeit des Jugendamtes bieten. In Deutschland liegt zurzeit der erste Entwurf für die ausdrückliche Erwähnung der Rechte von Kindern im Grundgesetz vor; die bisherige Diskussion dazu lässt jedoch befürchten, dass es sich eher um eine Showveranstaltung handelt. Das Verbot der psychischen und physischen Gewalt gegen Kinder existiert in Österreich bereits seit 1989 (das erste Land in dieser Hinsicht war Schweden 1979); in Deutschland wurde erst im Jahr 2000 eine Gewaltschutzregelung für Kinder in das BGB eingefügt.
Wie in Deutschland wird auch in Österreich bei erkennbarem Bedarf eine ambulante Familienhilfe eingesetzt, um zu allen Fragen der Erziehung und anderer Krisen und Notlagen unterstützend zu beraten und zu helfen. In Wien sind die Familienhelfer jedoch überwiegend direkt beim Bezirksamt angestellt und werden im Zwangskontext des Kinderschutzes tätig. In Deutschland ist dies an freie Träger ausgelagert; zumindest theoretisch gibt es einen Rechtsanspruch der Eltern auf diese Leistung, obwohl es in der Realität oft nur unter Druck zu einer ambulanten Unterstützung kommt.
Während eines Bereitschaftsdienstes wurde mir die Möglichkeit gegeben, bei der Abklärung einer Kinderschutzmeldung dabei zu sein. Eine Grundschule hatte mitgeteilt, dass drei Kinder einer Familie von Gewalt ihrer Eltern berichtet hatten. Zudem hatte die Schulärztin eine Vielzahl von Wunden an dem jüngsten, 7-jährigen Jungen festgestellt. Beim Gespräch mit den Lehrern und der Schulleitung wurde entschieden, die Kinder sofort durch das Jugendamt in Obhut zu nehmen. Anschließend wurden die Eltern über die Herausnahme ihrer Kinder informiert.
Während der Woche war ich bei drei Hausbesuchen dabei; die Familien waren schon länger im engen Kontakt zum Jugendamt. Es ging um gängige Themen wie Schuldistanz, häusliche Gewalt und hygienische Verhältnisse in der Wohnung. Trotz der schwierigen Problemlagen gelang es den Kolleginnen, eine vernünftige Arbeitsbeziehung zu den Eltern herzustellen; allerdings waren die Fortschritte in den Familien eher kleinteilig und immer wieder von Rückschlägen geprägt.
Fazit: Die erste Woche ist gut angelaufen; die Lernkurve war, wie erhofft und erwartet, besonders steil. Es gab auch einige interessierte Nachfragen zu den Arbeitsweisen des Jugendamtes in Deutschland und speziell in Berlin, die ich hoffentlich zufriedenstellend beantworten konnte. Es gibt etliche Wörter und Fachbegriffe, über die ich in Österreich gestolpert bin und die sich mir erst durch Erklärungen erschlossen haben. Für die nächste Woche wurden dankenswerterweise bereits einige externe Termine für mich vereinbart, um ein breites Spektrum an Eindrücken sicherzustellen.