In meinem vierten Wochenbericht möchte ich den Gentrifizierungsprozess im Bezirk Beyoğlu am Beispiel des Stadtteils Tarlabaşı thematisieren. Tarlabaşı hat bereits leidvolle Erfahrungen mit Gentrifizierung gemacht. Die Regierung hat seit 2006 gegen große Widerstände ein umstrittenes Stadtentwicklungsprojekt (Taksim 360) durchgedrückt (siehe oben). Dazu wurden Hunderte Häuser abgerissen, um nun in historisierender Form als Büros und Wohnungen für die Mittelschicht wieder aufgebaut zu werden. Heute sind nur einige Kirchen und alte Fassaden von dem geschichtsreichen Viertel geblieben. Sie erinnern an die Griechen und Armenier, die noch bis vor 50 Jahren überwiegend hier lebten. Im Viertel sind noch etliche Kirchen und viele Häuser zu sehen, die marode und deren Eigentumsrechte immer noch ungeklärt sind.
Der damalige zuständige Bezirksbürgermeister von Beyoğlu, Misbah Demircan, wollte das heruntergekommene Tarlabaşı wieder in einen “sicheren, lebens- und liebenswerten” Stadtteil verwandeln. Tatsächlich ist Tarlabaşı seit Jahrzehnten ein Wohn- und Amüsierviertel, wo Kellner leben, aber auch Stricher und Transvestiten untergetaucht sind und illegale Flüchtlinge eine Bleibe gefunden haben. In vielen Kellern hausen Müllsammler und ihre Familien. Mit seiner explosiven sozialen und kulturellen Mischung ist Tarlabaşı ein armes Viertel.
Wenn das “Restaurationsprojekt Tarlabaşı” in einigen Jahren vollendet ist, wird der Bezirk nicht mehr wiederzuerkennen sein. Angesichts der dann vorherrschenden Immobilienpreise (geplant ist ein Preis von 10.000 US-Dollar pro qm) wird die Bewohnerstruktur sich komplett verändern.
In Tarlabaşı findet sich das erste Beispiel eines gigantischen Abriss- und Erneuerungsprojekts in der Türkei, wo knapp 300 Häuser auf fast 30.000 qm Fläche komplett abgerissen und dann wieder neu aufgebaut werden. Das Projekt wird in einer Kooperation zwischen der öffentlichen Hand (vertreten durch den Bezirk Beyoğlu) und Privatinvestoren durchgeführt. Der Bezirk hatte seine Pläne zur Umwandlung von Tarlabaşı im Jahr 2007 fertiggestellt und präsentiert. Teilweise sollten die Bewohner*innen ihre Häuser und Wohnungen zu einem vom Bezirk geschätzten sehr niedrigen Verkehrswert an den Baukonzern verkaufen, sonst wurden sie enteignet. Um die kompromisslose Erneuerung auf den Weg zu bringen, schuf die Regierung 2005 ein Gesetz, das den Denkmalschutz außer Kraft setzt, offiziell dem “Ensembleschutz” dienen soll, Hauseigentümer*innen zum Verkauf zwingt und dem Staat die Möglichkeit gibt, Eigentümer*innen zu enteignen, wenn sie sich dem Gemeinschaftsinteresse
verweigern.
In Tarlabaşı hat der Bezirk aber längst die Kontrolle an einen privaten Großinvestor abgegeben. Das Regiment führt die Calik-Holding, ein Unternehmenskonglomerat, das in der Ära der AKP-Regierung großgeworden ist und in dem nicht ganz zufällig der Schwiegersohn von Ministerpräsident Tayyip Erdoğan im Vorstand saß. Planung und Durchführung des Projekts obliegt der GAP İnşaat, einem großen Bauunternehmen, das zur Calik-Holding gehört und der das Projekt ohne Ausschreibung übertragen wurde. GAP İnşaat hat die Besitzer*innen von 269 Häusern dazu gebracht, ihre Immobilien zu einem sehr niedrigen Preis an den Konzern abzutreten oder aber sich selbst an dem Projekt zu beteiligen. Rund 45 Prozent des Bestandes gehören nun GAP İnşaat, 50 Prozent sind weiterhin in Privatbesitz und 5 Prozent in Bezirkshand.
Dieses Projekt ist nur der Anfang der Gentrifizierung des gesamten Kiezes. Schon jetzt sind die Häuserpreise in ganz Tarlabaşı enorm in die Höhe gestiegen. Der gewollte Nebeneffekt der Flächensanierung in Tarlabaşı wird es sein, die dort jetzt lebenden Bewohner*innen aus dem Stadtzentrum zu verbannen.