261. Kiezspaziergang: Vom Savigny- zum Hindemithplatz

261. Kiezspaziergang Oliver Schruoffeneger

Herzlich willkommen! Mein Name ist Oliver Schruoffeneger und ich bin Stadtrat für Ordnung, Umwelt, Straßen und Grünflächen. Ich begrüße Sie alle recht herzlich zu unserem zu unserem 261. Kiezspaziergang.

Wie immer im November soll es auch in diesem Jahr vor allem um die Geschichte der jüdischen Bürgerinnen und Bürger in unserem Bezirk und um die Geschichte des Nationalsozialismus gehen.

Vorweg möchte ich Ihnen noch den Hinweis auf den nächsten Kiezspaziergang geben: Am Samstag, 14. Dezember widmet sich Bezirksstadtrat Arne Herz der Kantstraße und führt Sie von den Kantgaragen zum Breitscheidplatz. Der Treffpunkt ist um 14 Uhr an den Kant-Garagen.

Am 9. November gedenken wir eines dunklen Kapitels der deutschen Geschichte – der Reichspogromnacht. Der Begriff „Pogrom“ kommt aus dem Russischen und entstand in den 1880er-Jahren im Zarenreich während der Massaker an Jüdinnen und Juden. Wörtlich übersetzt bedeutet Pogrom „Krawalle“, „Verwüstung“ oder „Zerstörung“. Dieses staatlich organisierte Gewaltverbrechen an der jüdischen Bevölkerung entfaltete sich in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 in ganz Deutschland, auch hier in Charlottenburg-Wilmersdorf. In dieser Nacht brannten Synagogen, jüdische Geschäfte wurden geplündert und zerstört, Menschen wurden verhaftet und misshandelt, Familien in Angst und Schrecken versetzt. Offiziell rechtfertigte man das Pogrom als „Vergeltung“ für ein Attentat auf einen deutschen Diplomaten in Paris. In Wahrheit nutzten die Nationalsozialisten dies als Vorwand für eine Welle der Gewalt, die die die letzte Stufe vor der systematischen Verfolgung und dem Holocaust markierte.

In Berlin lebten damals etwa 173.000 Jüdinnen und Juden, davon 54.000 in Charlottenburg und Wilmersdorf – den beiden Bezirken mit dem höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil. Zahlreiche Menschen versuchten, der Gewalt durch Flucht zu entkommen, doch mehr als ein Drittel Berliner Jüdinnen und Juden fielen den Verbrechen der Nationalsozialisten bis 1945 zum Opfer.

Heute, 86 Jahre später, hat das Gedenken am 9.11. eine neue Dringlichkeit. Der 7. Oktober 2023 brachte einen verheerenden Anschlag auf Israel, und parallel dazu erleben wir eine Zunahme antisemitischer Übergriffe und das Erstarken rechter Ideologien. Für viele Jüdinnen und Juden ist es heute, wie damals, wieder gefährlich geworden, sich in Deutschland öffentlich zu ihrem Glauben zu bekennen. Das Erinnern an die Novemberpogrome von 1938 ist daher nicht nur ein Blick zurück, sondern ein Appell für Gegenwart und Zukunft: Nie wieder dürfen solche Verbrechen geschehen.

Unser Spaziergang führt uns heute durch Charlottenburg, einen Ortsteil, der wie kaum ein anderer für die jüdische Geschichte Berlins steht. Unser Fokus liegt heute nicht auf den Gebäuden und architektonischen Zeugen der Vergangenheit – er liegt auf den Menschen. Auf jenen, die hier gelebt, gelitten und Widerstand geleistet haben. Ihre Geschichten erzählen von einer Welt, die zerstört wurde, aber auch von der Unerschütterlichkeit menschlicher Würde. Indem wir uns heute an sie erinnern, halten wir ihre Geschichten lebendig und setzen ein Zeichen gegen das Vergessen.

261. Kiezspaziergang Savignyplatz

1. Station: Savignyplatz

Die Gegend rund um den Savignyplatz gilt vielen als Herz Charlottenburgs. In den 1920er und frühen 1930er Jahren zog er Künstler, Intellektuelle und Unternehmer an, darunter viele aus der jüdischen Gemeinde. Hier fand die jüdische Kultur und das intellektuelle Leben Charlottenburgs einen zentralen Treffpunkt. Restaurants, Cafés, Jazzclubs und Buchhandlungen prägten das Bild und förderten den Austausch und die kulturelle Blüte.

Die jüdische Gemeinschaft, die Charlottenburg zu einem Zentrum des jüdischen Lebens in der Weimarer Republik machte, fand hier ein Zuhause. Persönlichkeiten wie die Dichterin Mascha Kaléko, die 1938 ins Exil nach New York musste, gehörten zu dieser lebendigen Szene. In einem Gedicht beschreibt sie ihre enge Verbindung zum Savignyplatz und zu Berlin.

„Ich bin, vor jenen ‘tausend Jahren’ Viel in der Welt herumgefahren. Schön war die Fremde, doch Ersatz. Mein Heimweh hieß Savignyplatz.”

Gehen wir jetzt durch die Grolmanstraße zum ehemaligen jüdischen Bad in der Bleibtreustraße 2.

261. Kiezspaziergang Bleibtreustraße 2

2. Station Bleibtreustraße 2 / Ehemaliges jüdisches Bad

Die Bleibtreustraße 2 – heute ein Spielplatz – war einst ein Zentrum jüdischer Tradition und religiösen Lebens in Charlottenburg. Hier befand sich die Mikwe – ein rituelles Bad, das in der jüdischen Tradition eine zentrale Rolle spielt. Die Mikwe diente nicht der alltäglichen Hygiene, sondern einem tief verankerten religiösen Zweck: der rituellen Reinigung durch Untertauchen in Wasser. Im Erdgeschoss und Keller des Hauses installierte die Jüdische Gemeinde je ein Regen- und ein Tiefwasserbassin sowie drei Tiefbäder, die ein großer Boiler erwärmte. Im Erdgeschoss stellte man sechs Badewannen auf und richtete Warte- und Umkleideräume ein. Viele Vorschriften regelten die rituellen Waschungen: Die Bäder mussten in fließendem oder Regenwasser stattfinden. Das Tauchbecken musste mindestens 800 Liter fassen und sieben Stufen tief sein. Unter dem Beten von Segenssprüchen mussten sich die Badegäste dreimal untertauchen.

Die Bleibtreustraße 2 war mehr als ein Ort der Reinigung; sie spiegelte das vielfältige Leben in Charlottenburg wider. Hier lebte die berühmte „Berliner Mischung”: Arbeiter und Angestellte, Kaufleute und Beamte, Akademiker, Künstler und Pensionäre, Soldaten und Handwerker. Ab 1935 beherbergte das Gebäude auch das Jüdische Wohlfahrts- und Jugendamt sowie die Jüdische Allgemeine Zeitung, was seine Bedeutung als Ort der jüdischen Gemeinschaft verstärkte.

Doch diese Stätte religiösen und sozialen Lebens blieb nicht verschont von der systematischen Zerstörung jüdischer Einrichtungen während der NS-Zeit. Mit der Enteignung des Gebäudes und der Zwangsversteigerung an Erika Brümmel, Witwe des Bürgermeisters von Mitte, verwandelte sich das Gebäude in ein sogenanntes „Judenhaus“. In diese Häuser wurden Jüdinnen und Juden aus anderen Wohnungen zwangseinquartiert, bevor sie in die Konzentrationslager deportiert wurden. Namen wie Albert und Cilla Daniel oder der kleine Heinz Salomon, die hier lebten und dann verschleppt und ermordet wurden, sind heute auf Gedenktafeln dokumentiert, die an das Schicksal der Bewohner erinnern.

1943 zerstörten alliierte Bomben die Bleibtreustraße 2 größtenteils. Ab 1951 bemühte sich die neu gegründete Jüdische Gemeinde, das „arisierte“ Grundstück zurückzuerlangen. Sie, beziehungsweise die Jewish Restitution Successor Organization, die die Ansprüche übernahm, klagte gegen Frau Brümmel auf Entschädigung. Diese Auseinandersetzungen zogen sich über mehr als zwanzig Jahre hin. Das Areal blieb unbebaut. 1956 richtete der Bezirk Charlottenburg auf dem von Trümmern befreiten Grundstück einen Kinderspielplatz ein. Zum Gehweg hin entstand eine Pergola. 2013 gründeten mehrere Nachbarn die Bürgerinitiative „mikwe – kultur begegnungen“. Sie installierten auf dem Spielplatz eine Dauerausstellung zur Geschichte des Ortes und möchten den Platz als Nachbarschaftstreffpunkt für Lesungen, Konzerte und Kunstaktionen nutzen.

Lassen Sie uns die Bleibtreustraße weiter hinuntergehen. Unsere nächste Station ist der Else-Ury-Bogen.

261. Kiezspaziergang -Else-Ury-Bogen

3. Station: Else-Ury-Bogen

Else Ury wurde am 1. November 1877 in Berlin geboren und ist vor allem für ihre berühmten „Nesthäkchen“-Bücher bekannt. Diese Kinderbuchreihe erzählt das Leben der aufgeweckten Arzttochter Annemarie Braun von ihrer Kindheit bis zum Erwachsenenalter. Ury schrieb die Geschichten zwischen 1913 und 1925, sie spielen im deutschen Kaiserreich und der Weimarer Republik und prägten das Bild von Mädchen- und Frauenleben einer ganzen Generation. Annemarie Braun verkörpert dabei ein traditionelles bürgerliches Rollenbild und wächst in einem wohlhabenden Umfeld auf.

Else Ury war zu ihrer Zeit eine gefeierte und erfolgreiche Schriftstellerin. Doch mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten und deren antisemitischer Politik wurde Ury als jüdische Autorin zunehmend isoliert. 1935 schloss man sie aus der Reichsschrifttumskammer aus, was einem Berufsverbot gleichkam.

Sie pflegte ihre kranke Mutter bis zu deren Tod 1940. Urys Neffe bemühte sich vergeblich um ein Kuba-Visum für seine Tante. Im April 1942 beschlagnahmten die Behörden Els Urys Haus. Im Januar 1943 erhielt sie die Nachricht, dass man sie als „Reichsfeindin“ betrachtete und ihr Vermögen – Zitat – „zugunsten des Deutschen Reiches“ einzog. Am 12. Januar 1943 deportierte man Else Ury ins Vernichtungslager Auschwitz, wo sie nur einen Tag später, direkt nach ihrer Ankunft, in der Gaskammer ermordet wurde.

In den „Nesthäkchen“-Büchern wächst die Hauptfigur Annemarie Braun hier in Charlottenburg auf, in einer christlich-protestantischen, gutbürgerlichen Familie. Zentrale Motive der Bücher sind familiärer Zusammenhalt und Geborgenheit. Else Urys Bücher stehen heute als Mahnung und Erinnerung an eine unbeschwerte Kindheit, die jüdischen Kindern zur NS-Zeit versagt blieb.

Mit dem „Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“ von 1933 begann die schrittweise Ausgrenzung jüdischer Schülerinnen und Schüler. Sie verloren den Zugang zu öffentlichen Schulen und den Kontakt zu nicht-jüdischen Kindern. Auch jüdische Lehrerinnen und Lehrer wurden entlassen. Nach den Novemberpogromen 1938 wurde jüdischen Schüler:innen der Zugang zu allen öffentlichen Schulen vollständig verboten. Die jüdischen Gemeinden reagierten, indem sie eigene Schulen gründeten, die ihren Schüler:innen in einer antisemitischen Umgebung einen Schutzraum bieten sollten. Dort vermittelten sie nicht nur schulische Inhalte, sondern lehrten auch jüdische Geschichte und Kultur und bereiteten die Kinder – etwa durch Fremdsprachenunterrricht – auf eine mögliche Emigration und ein Leben im Ausland vor. Ab Juni 1942 untersagte man jüdischen Kindern den Schulbesuch und löste alle jüdischen Schulen auf. Zudem durften sie keinen Unterricht von Lehrkräften, ob bezahlt oder unbezahlt, erhalten.

Für viele jüdische Kinder und Jugendliche bedeutete dies den Verlust einer normalen Kindheit. Die Verfolgung und Enteignung ihrer Familien nahmen ihnen die Sicherheit und Stabilität, die Annemarie Braun in den Nesthäkchen-Büchern erleben durfte.

Wir gehen die Bleibtreustraße weiter bis zur Mommsenstraße. Dort biegen wir rechts ab und treffen uns vor der Hausnummer 6 an der Gedenktafel für Leo Blech.

261. Kiezspaziergang Mommsenstraße Gedanktafel Leo Blech

4. Mommsenstraße 6: Gedenktafel Leo Blech

Leo Blech (1871–1958) war ein deutscher Dirigent und Komponist jüdischer Herkunft. Schon mit neun Jahren gab er Klavierkonzerte in seiner Heimatstadt Aachen und galt als Wunderkind. Doch statt einer musikalischen Karriere entschied er sich zunächst für eine kaufmännische Ausbildung.

Ein Kölner Konservatoriumsdirektor Franz Wüllner erkannte das musikalische Talent von Blech und ermutigte ihn, Musik zu studieren. Blech machte schließlich Karriere als Dirigent an renommierten Opernhäusern, wie dem Deutschen Landestheater in Prag und schließlich der Berliner Hofoper (heute: Staatsoper Unter den Linden), wo er 1913 zum Generalmusikdirektor aufstieg. 1923 war Blech auch für kurze Zeit Generalmusikdirektor am Deutschen Opernhaus Charlottenburg.

Blechs Ansehen und Einfluss wuchsen stetig. Er dirigierte zahllose Opernaufführungen und galt als einer der bedeutendsten Dirigenten Deutschlands. Während der NS-Zeit durfte er zunächst unter Sondergenehmigung von Joseph Goebbels weiterarbeiten. Doch 1937 zwang ihn der zunehmende Druck zur Emigration nach Lettland. Während der NS-Besatzung Lettlands entkam er knapp der Deportation und fand schließlich in Schweden Zuflucht, wo er an der Königlichen Oper in Stockholm noch eine erfolgreiche Karriere erlebte. 1949 kehrte er als Generalmusikdirektor an die Städtische Oper in Charlottenburg Deutschland zurück und beendete seine Laufbahn 1953 in Berlin-Charlottenburg. Er verstarb im Jahr 1958 in Berlin und wurde auf dem Friedhof Heerstraße beerdigt.

In den 1930er-Jahren verdrängte das NS-Regime systematisch jüdische Künstler aus dem deutschen Kulturleben. Berufsverbote und Verleumdungskampagnen raubten jüdischen Musikern und Komponisten, darunter viele führende Persönlichkeiten, ihre Existenzgrundlage und kulturelle Heimat. Das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums von 1933 erlaubte die Entlassung jüdischer Staatsbediensteter, und die Reichskulturkammer kontrollierte und zensierte den Kulturbetrieb vollständig. Musiker, die als „entartet“ galten, wurden aus Orchestern entfernt, ihre Werke verboten und als „undeutsch“ abgestempelt. Der Verlust jüdischer Künstler führte zu einem tiefgreifenden kulturellen Aderlass und markierte den Niedergang der Musikkultur im Dritten Reich.

Die „Ausstellung Entartete Musik“ 1938 in Düsseldorf war ein grausames Beispiel für die öffentliche Diffamierung jüdischer und anderer „unerwünschter“ Musiker, die fortan im Exil oder im Verborgenen arbeiteten. Dirigenten wie Leo Blech konnten dem Ausschluss oft nur durch Emigration entgehen, verloren jedoch ihre Bedeutung im deutschen Musikleben und fanden nur schwer wieder Zugang in die Nachkriegskultur Deutschlands.

Blechs Lebensgeschichte zeigt eindrücklich den Verlust, den die deutsche Kultur durch den nationalsozialistischen Rassenwahn erlitten hat. Trotz seiner Verdienste als Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper fiel auch er den antisemitischen Repressionen zum Opfer. Die Vernichtung der jüdischen Kultur im deutschen Musikleben führte zu einem kulturellen Verlust, dessen Auswirkungen weit über Blechs eigenes Schicksal hinausgingen.

Nach dem Krieg kehrten nur wenige jüdische Künstlerinnen und Künstler zurück, und die Werke vieler emigrierter Musiker gerieten lange in Vergessenheit. Es dauerte Jahrzehnte, bis deutsche Konzertprogramme die „verfemte Musik“ der Emigranten wiederaufnahmen und deren Bedeutung anerkannten. Heute erinnert hier in der Mommsenstraße eine Gedenktafel an Leo Blech. Auf der Tafel lesen wir:

Hier lebte von 1913 bis zu seiner Emigration
im Jahre 1937
LEO BLECH
22.4.1871 – 25.8.1958
Komponist und Dirigent, Generalmusikdirektor
an der Staatsoper Unter den Linden
und am Deutschen Opernhaus Charlottenburg

Wir gehen die Mommsenstraße weiter bis zur Schlüterstraße, biegen dort links ab und treffen uns am George-Grosz-Platz.

261. Kiezspaziergang George-Grosz-Platz

5. Station George-Grosz-Platz

Der heutige George-Grosz-Platz, einst ein unscheinbares Dreieck an der Schlüterstraße, wurde 1986 nach dem bedeutenden Künstler George Grosz benannt. 2010 gestaltete man den Platz mit Hilfe des Stromanbieters Vattenfall um und erweiterte ihn, was seine Aufenthaltsqualität und Struktur deutlich verbesserte. Eine Informationssäule und ein Bodenmosaik mit Grosz’ signierter Unterschrift erinnern an sein Erbe.

George Grosz lebte von 1893 bis 1959 und war Maler, Grafiker und politischer Satiriker. Er gilt als prägende Stimme der Neuen Sachlichkeit und der Berliner Avantgarde. In seinen sozialkritischen, oft provokanten Arbeiten deckte er die politischen und gesellschaftlichen Missstände seiner Zeit auf. Mit scharfem Blick und satirischem Humor enthüllte er die Schattenseiten des großstädtischen Lebens und die Klassengegensätze der Weimarer Republik. Grosz’ Werke, die drastisch den moralischen Verfall und die Doppelmoral der Gesellschaft zeigten, diffamierten die Nationalsozialisten als “entartete Kunst”.

Diese Diffamierung sollte moderne Kunst abwerten und kritische Künstler isolieren. Die Ausstellung „Entartete Kunst“ demonstrierte den Hass der Nationalsozialisten auf künstlerische Freiheit und diente als Werkzeug der Einschüchterung und Zensur. Werke von Künstlern wie Grosz wurden beschlagnahmt, vernichtet oder ins Ausland verkauft. Dieser Angriff auf die Kunst war Teil einer Strategie, kritische Stimmen zu unterdrücken und die Kultur des Landes der NS-Propaganda zu unterwerfen.

Grosz lebte von 1928 bis 1933 in der Trautenaustraße 12, bevor er vor den Nationalsozialisten fliehen musste. Schon am 8. März 1933, neun Tage nach dem Reichstagsbrand, wurde George Grosz ausgebürgert, als erste und zunächst einzige von 553 sofort erfassten Personen des öffentlichen Lebens. Er emigrierte rechtzeitig in die USA und musste die Pogromnacht am 9. November 1938 nicht miterleben. Besonders am Kurfürstendamm spielten sich furchtbare Szenen ab. In dieser Straße, einem wichtigen kulturellen und gesellschaftlichen Zentrum, zerstörten die Nationalsozialisten systematisch jüdische Geschäfte, Synagogen und Häuser. Die Ereignisse am Kurfürstendamm zeigen die Bereitschaft des Regimes, Gewalt zur Einschüchterung und Unterdrückung einzusetzen. Zeitzeugen wie der kolumbianische Botschafter Jaime Jaramillo Arango berichteten, wie uniformierte SS-Mitglieder und andere Männer mit Eisenstangen jüdische Geschäfte zerstörten, Möbel demolierten und Waren plünderten. Auch Erich Kästner, der zufällig die Szenen miterlebte, schilderte, wie SS-Leute in Zivilkleidung gezielt Schaufenster einschlugen. Dreimal versuchte er aus seinem Wagen auszusteigen, wurde jedoch jedes Mal von Kriminalbeamten gewaltsam im Auto zurückgehalten.

Wir gehen ein paar Meter den Kurfürstendamm entlang, biegen dann rechts in die Schlüterstraße und treffen uns am Walter-Benjamin-Platz wieder.

261. Kiezspaziergang Walter-Benjamin-Platz

6. Station Walter-Benjamin-Platz

Dieser Platz ehrt seit 1999 den Philosophen und Schriftsteller Walter Benjamin, eine der scharfsinnigsten Denker des 20. Jahrhunderts, der die intellektuelle Kultur Deutschlands prägte.

Walter Benjamin, 1892 in Berlin geboren, wuchs im Berliner Westen, in Grunewald, Wilmersdorf und Charlottenburg auf. Seine Schriften reichen von Kulturkritik bis Philosophie und beeinflussen weit über die Grenzen der Philosophie hinaus. Als unabhängiger Denker und enger Freund von Theodor W. Adorno und Bertolt Brecht bereicherte Benjamin mit seiner sozial verstandenen Ästhetik die Frankfurter Schule. Er erforschte intensiv, wie Massenmedien und Kultur die Gesellschaft formen, und schrieb bahnbrechende Werke wie „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“. Seine Texte bleiben in der Literatur-, Medien- und Sozialwissenschaft zentral.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 begann für Benjamin eine Zeit der Flucht und Entbehrung. Als Jude war er den Repressionen des Nazi-Regimes ausgesetzt und emigrierte nach Paris. Dort lebte er in Armut, unterstützt von Freunden wie Hannah Arendt und durch kleine finanzielle Zuwendungen. 1940, als die Deutschen Frankreich besetzten, beschloss er, nach Spanien zu fliehen, um von dort über Portugal in die USA zu gelangen.

Auf seiner Flucht überquerte er die spanische Grenze, doch in der Grenzstadt Portbou nahm er sich am 26. September 1940 aus Furcht vor der Auslieferung an die Gestapo das Leben. Seine Leiche wurde in einem Massengrab beigesetzt, doch sein Vermächtnis lebt weiter.

Walter Benjamin war nicht nur ein Denker, sondern verkörpert auch das Schicksal vieler jüdischer Intellektueller, die durch die Nationalsozialisten verfolgt wurden und Deutschland verlassen mussten.

Die nationalsozialistische Politik hatte verheerende Auswirkungen auf jüdische Wissenschaftler in Deutschland und führte zu einer massiven Emigrationswelle. Ein zentrales Instrument zur Ausgrenzung war auch hier das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ von 1933. Es schuf die Grundlage für die Entlassung zahlreicher jüdischer Akademiker an Hochschulen und Universitäten. Zwischen 1933 und 1945 verloren die deutschen Universitäten rund ein Fünftel ihrer Dozenten und Professoren, die überwiegend jüdischer Herkunft waren.

Die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung nahm in den folgenden Jahren weiter zu. Die Nürnberger Gesetze von 1935 schlossen jüdische Bürger aus der sogenannten „deutschen Volksgemeinschaft“ aus und beraubten sie ihrer politischen Rechte. Mit den Novemberpogromen 1938 erreichte die Verfolgung einen neuen Höhepunkt und verstärkte die Notwendigkeit der Emigration für viele jüdische Wissenschaftler und Intellektuelle.

261. Kiezspaziergang Walter-Benjamin-Platz

Für die meisten von ihnen wurde die Emigration zur einzigen Möglichkeit, ihr Leben und ihre Karriere zu retten. Schätzungen zufolge verließen rund 60 Prozent der betroffenen Wissenschaftler Deutschland, darunter namhafte Persönlichkeiten wie die Physik-Nobelpreisträger Albert Einstein und Max Born, die ihre Laufbahnen im Ausland erfolgreich fortsetzen konnten. Doch viele Emigranten standen vor erheblichen Herausforderungen. Der Verlust der akademischen Stellung und der berufliche Neuanfang im Ausland führten für zahlreiche Wissenschaftler zu einer Dequalifizierung und teils existenziellen Notlagen.

Die Emigration selbst war mit zahlreichen Hürden verbunden. Hohe finanzielle Belastungen durch Sondersteuern wie die „Reichsfluchtsteuer“ erschwerten das Verlassen Deutschlands. Zudem behinderten die restriktiven Einwanderungspolitiken der Aufnahmeländer und bürokratische Hürden den Neustart im Ausland erheblich. Viele Exilanten sahen sich auch mit sprachlichen und kulturellen Barrieren konfrontiert, die ihre Integration erschwerten.

Die Vertreibung jüdischer Forscher hatte weitreichende Folgen für die Wissenschaft. Für Deutschland bedeutete der Verlust dieser intellektuellen Kapazitäten einen herben Rückschlag. Die Aufnahmeländer hingegen, vor allem die USA, profitierten erheblich vom Wissen und Können der emigrierten Wissenschaftler.

So führte die nationalsozialistische Politik nicht nur zu schmerzlichen individuellen Schicksalen, sondern veränderte auch die wissenschaftliche Landschaft nachhaltig.

Wir gehen jetzt wenige Meter die Wielandstraße hinaus bis zur Hausnummer 15.

261. Kiezspaziergang Charlotte Salomon

7. Station Wielandstr. 15: Gedenktafel für Charlotte Salomon, Stolpersteine + Wielandstr. 18: Gedenktafel für Otto Jogmin

Charlotte Salomon kam 1917 als Tochter des Chirurgen Albert Salomon in eine gutbürgerliche, assimilierte jüdische Familie in Berlin-Charlottenburg zur Welt. Ihre Familie wohnte hier in der Wielandstraße 15. Tragische Ereignisse prägten ihre Kindheit, darunter der Suizid ihrer Mutter 1926. In dieser Zeit wurde ihre Stiefmutter, die Sängerin Paula Lindberg, eine wichtige Bezugsperson. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten begann die systematische Ausgrenzung jüdischer Bürger, die auch die Salomons traf. Charlottes Vater verlor 1933 seine Professur an der Charité und durfte nur noch jüdische Patienten behandeln. Die wachsende antisemitische Stimmung zwang Charlotte Salomon, die Schule ein Jahr vor dem Abitur zu verlassen und ihren Traum, Künstlerin zu werden, an einer privaten Kunstschule zu verfolgen.

Das Novemberpogrom 1938 markierte einen weiteren Wendepunkt: Albert Salomon wurde mehrere Monate im KZ Sachsenhausen inhaftiert. Als die Lage unerträglich wurde, floh Charlotte 1939 zu ihren bereits emigrierten Großeltern nach Südfrankreich. Dort begann sie, isoliert und unter psychischem Druck, an ihrem beeindruckenden Werk “Leben? Oder Theater?” zu arbeiten, einer autobiografischen Bilderserie, in der sie ihre Familiengeschichte und die Erfahrungen antisemitischer Verfolgung künstlerisch verarbeitete.

Charlottes Eltern flohen 1939 nach Amsterdam. Sie bemühten sich von dort um die gemeinsame Ausreise mit ihrer Tochter in die USA. Der Plan scheiterte am Vormarsch der Wehrmacht: die Eltern wurden in das holländische Lager Westerbork deportiert. Charlotte selbst geriet im September 1943 ins Visier der Behörden, als sie den österreichischen Emigranten Alexander Nagler heiratete. Man verhaftete das frisch vermählte Ehepaar und deportierte es nach Auschwitz. Charlotte Salomon war im fünften Monat schwanger und wurde vermutlich am Tag ihrer Ankunft, dem 12. Oktober 1943, in Auschwitz ermordet – mit nur 26 Jahren. Ihr Werk, das sie kurz vor ihrer Verhaftung einem Arzt zur Aufbewahrung übergeben hatte, gelangte später zu ihren Eltern und befindet sich heute im Jüdischen Museum Amsterdam.

Charlotte Salomons Schicksal steht stellvertretend für das Leid, das Hunderttausende Jüdinnen und Juden erlebten. Die systematischen Deportationen aus Berlin begannen im Oktober 1941 und wurden unter Tarnbegriffen wie „Evakuierung“ durchgeführt, um das wahre Ausmaß des Schreckens zu verschleiern. Von Berlin aus schickte man Tausende Menschen in Ghettos und Konzentrationslager.

An dem ehemaligen Wohnhaus von Charlotte Salomon ließ der Landesjugendring eine Bronzetafel anbringen:

“IN DIESEM HAUSE LEBTE
CHARLOTTE SALOMON
VON IHRER GEBURT AM 16. APRIL 1917
BIS ZUR FLUCHT AUS DEUTSCHLAND
IM JANUAR 1939
1943 WURDE SIE NACH AUSCHWITZ
DEPORTIERT
VERGESST SIE NICHT
LANDESJUGENDRING BERLIN”

Die Stolpersteine für Familie Salomon wurden am 21.04.2012 verlegt.

Die Salomons waren nicht die einzige jüdische Familie, die zu der Zeit in dem Haus in der Wielandstraße 15 lebten. Auch Familie Driller wohnte hier, ihre Stolpersteine wurden am 15.10.2013 verlegt.

261. Kiezspaziergang Otto Jogmin

Eine hoffnungsvollere Geschichte hat sich dagegen nur drei Häuser weiter abgespielt. In der Wielandstraße 18 lebte der Hauswart Otto Jogmin – einer jener “stillen Helden,” die unter Lebensgefahr jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern in der NS-Zeit Schutz und Hilfe gewährten.

Auf seiner Gedenktafel steht:

Hier lebte von 1935 bis 1957 mit seiner Familie
Otto Jogmin
28.11.1894 – 2.6.1989
In seiner Funktion als Hauswart rettete Jogmin Jüdinnen und Juden. Er führte Hausbücher, in denen er Namen und Religionszugehörigkeiten fälschte. Auch versteckte er Verfolgte in Wohnungen, baute Keller zu einem Unterschlupf und Fluchtweg um und organisierte Lebensmittel und Medikamente.

Jogmin war selbst kein Jude. Nach den Novemberpogromen begann er aber, jüdischen Mietern bei ihren verzweifelten Versuchen, Deportationen zu entkommen, zu helfen.

In Berlin versuchten rund 7.000 jüdische Menschen im Untergrund zu leben, um den Vernichtungslagern zu entkommen – das entsprach etwa neun Prozent der jüdischen Bevölkerung der Stadt. Doch nur etwa 1.700 von ihnen, also etwa ein Viertel, überlebte tatsächlich. Die übrigen etwa 5.300 wurden von „aufmerksamen“ Nachbarn verraten, bei Gestapo-Razzien gefasst oder starben durch Bombenangriffe und fehlende medizinische Versorgung.

Die Herausforderungen für die Verfolgten waren enorm: Unterzutauchen bedeutete, die eigene Identität zu verbergen und auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein. Nahrung war knapp, da die kriegsbedingte Rationierung die gesamte Bevölkerung traf. Lebensmittelmarken mit einem “J” für jüdische Bürgerinnen und Bürger wiesen ohnehin nur geringe Nahrungsmengen von schlechter Qualität zu, und beim Untertauchen fiel diese Versorgung ganz weg. Ohne Geld für den Schwarzmarkt blieben den Verfolgten nur Helferinnen und Helfer, die ihre kargen Rationen mit ihnen teilten. Für die Helfenden bedeutete das nicht nur materielle, sondern auch persönliche Entbehrungen und ständige psychische Belastung.

Otto Jogmin setzte für seine Schützlinge nicht nur seine Existenz, sondern auch sein Leben aufs Spiel. Er fälschte das Mietbuch, um Namen und Glaubenszugehörigkeiten zu verschleiern, versteckte Menschen in Kellerräumen und richtete Fluchtdurchgänge zu benachbarten Gebäuden ein, damit seine Schützlinge bei Razzien fliehen konnten. Regelmäßig fuhr er ins Umland, um bei einem befreundeten Schäfer Lebensmittel wie Käse, Speck und Mehl zu besorgen. Diese riskanten Aktionen waren lebensnotwendig, denn ohne sie wäre die Versorgung der Versteckten kaum möglich gewesen.

Die Gefahr war auch für die Helfenden enorm: Ein Erlass des Reichssicherheitshauptamtes aus dem Jahr 1941 sah “Schutzhaft” für Deutsche vor, die sich freundlich gegenüber Juden verhielten. Schwerwiegende Fälle konnten sogar eine Einweisung ins Konzentrationslager bedeuten. Bereits kleine Hilfeleistungen fielen unter den Vorwurf der sogenannten “Judenbegünstigung” – ein Begriff, der rechtlich nicht genau definiert war und daher große Willkür in der Ahndung zuließ. Die Gefahr, jederzeit wegen Urkundenfälschung, eines Verstoßes gegen die Kriegswirtschaftsverordnung oder anderer Delikte festgenommen zu werden, war allgegenwärtig.

Die Menschen, die wie Otto Jogmin das Leben von Verfolgten retteten, riskierten nicht nur ihre Freiheit, sondern oft auch ihr Leben. Trotz dieser extremen Gefahren traten in Berlin über 20.000 Helfer in Erscheinung. Angesichts der Gesamtbevölkerung mag diese Zahl klein erscheinen, aber sie ist größer als lange angenommen. Und sie verdeutlicht, dass auch unter den Bedingungen der NS-Diktatur Hilfe möglich war und erfolgreich sein konnte. Dennoch: Die Zahl der Menschen, die sich der nationalsozialistischen Judenverfolgung widersetzten, war minimal.

Jogmin überlebte den Krieg ohne Festnahme und verstarb 1989 in West-Berlin. Heute ehrt ihn die israelische Gedenkstätte Yad Vashem als “Gerechten unter den Völkern,” und die Gedenkstätte “Stille Helden” erinnert an ihn und andere, die gegen das NS-Unrecht aufstanden und Leben retteten.

Unsere nächste Station ist die Giesebrechtstraße 12. Das heißt wir gehen die Wielandstraße hinauf – dabei kommen wir auch am Haus von Otto Jogmin vorbei – und biegen links in die Mommsenstraße ein. Wir gehen dann bis zur Ecke Leibnizstraße und biegen dort links ab, gehen bis zum Kurfürstendamm, halte uns da rechts und biegen rechts in die Giesebrechtstraße ein.

261. Kiezspaziergang Giesebrechtstraße 12 Gedenktafel Josed Wulf

8. Station: Giesebrechtstraße 12: Joseph Wulf: Pionier der Dokumentation von NS-Verbrechen

Der Name Joseph Wulf ist eng mit den Herausforderungen der Erinnerungskultur in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg verknüpft. Die Bronzetafel zu seinem Gedenken wurde 1996 am Haus in der Giesebrechtstraße 12 angebracht:

IN DIESEM HAUSE WOHNTE DIE LETZTEN ZWEI
JAHRZEHNTE SEINES LEBENS DER HISTORIKER
JOSEPH WULF
22.XII.1912 – 10.X.1974
PIONIER DER DOKUMENTATION VON NS-VERBRECHEN
GEBOREN IN CHEMNITZ; AUFGEWACHSEN IN KRAKAU,
GEFANGEN IN AUSCHWITZ,
VOLLBRACHTE ER SEIN LEBENSWERK IN BERLIN

Joseph Wulf, geboren 1912, war ein Pionier der NS-Forschung. Er schloss sich dem Widerstand an, überlebte Auschwitz und setzte sich nach dem Krieg mit unermüdlicher Kraft dafür ein, die Verbrechen des Nationalsozialismus umfassend zu dokumentieren und diese der deutschen Gesellschaft vor Augen zu führen. Seine Arbeit prägte die frühe Holocaustforschung in Deutschland, jedoch musste er in einem Klima aus Ablehnung und Ignoranz arbeiten.

Nach dem Krieg, den Wulf traumatisiert überlebte, widmete er sein Leben der Aufklärung über den Nationalsozialismus und publizierte in den 1950er Jahren in Berlin bahnbrechende Werke. Trotz seiner Bemühungen, die deutschen Eliten, die Verbrechen und die Namen der Täter transparent zu machen, wurde er weitgehend abgelehnt, vor allem von akademischen Historikern und großen Teilen der Nachkriegsgesellschaft. Viele Deutsche wollten damals nur ungern an die verbrecherische Vergangenheit erinnert werden. Als er 1965 ein Dokumentationszentrum in der Villa der Wannsee-Konferenz forderte, die für die „Endlösung der Judenfrage“ von den Nazis genutzt worden war, stieß er auf massive Widerstände: Trotz prominenter Unterstützer verweigerte der Berliner Senat die Nutzung des Gebäudes. Der damalige Bürgermeister Klaus Schütz äußerte sogar die Befürchtung, eine solche Gedenkstätte könnte Antisemitismus schüren.

Das Unverständnis für seine Arbeit und der fehlende Rückhalt in der Nachkriegsgesellschaft führten zu einer tiefen Enttäuschung. 1974 stürzte er sich aus dem Fenster Wohnung im vierten Stock in den Tod. In seinem letzten Brief an seinen Sohn schrieb er: „Du kannst dich bei den Deutschen totdokumentieren […] und die Massenmörder gehen frei herum, haben ihr Häuschen und züchten Blumen.“ Es bedurfte erst einer neuen Generation, um seine Forschung und seine Rolle in der Erinnerungskultur zu würdigen. 1992, 18 Jahre nach seinem Tod, wurde die Gedenkstätte „Haus der Wannsee-Konferenz“ tatsächlich eröffnet. Die dortige Bibliothek trägt Wulfs Namen.

Wir treffen uns bei unserer nächsten Station an der Giesebrechtstraße 18.

261. Kiezspaziergang Giesebrechtstraße 18 Stolpersteine

9. Station: 25 Stolpersteine, Giesebrechtstraße 18, 10629 Berlin

Vor dem Haus in der Giesebrechtstraße 18 erinnern 25 Stolpersteine an das Schicksal der jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner. Die Stolpersteine sind ein Projekt des Künstlers Gunter Demnig, das im Jahr 1992 begann. Es ermöglicht ein Gedenken im Alltag und erinnert an jene, die als „Menschen wie Du und Ich“ aus ihrem Leben gerissen wurden. Jeder Schritt über einen Stolperstein konfrontiert Passantinnen und Passanten mit einem Mahnmal, einem Namen, einem Menschen und seiner Geschichte.

Diese Steine sind fest im Boden verankert. Messingplatten tragen Namen, Geburtsjahr und ein kurzes Schicksal der Verstorbenen. Die Giesebrechtstraße war die erste Straße in Berlin, in der für alle einstigen jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner Stolpersteine verlegt wurden. Hier lebten einst 116 Juden, die zwischen 1941 und 1943 in Vernichtungslager verschleppt wurden.

Die Stolpersteine sind mehr als stille Denkmäler; sie inspirierten eine Bürgerbewegung, die sich mit der Geschichte ihrer Häuser und Nachbarschaften auseinandersetzt. Viele Schulen und engagierte Bürger übernehmen Patenschaften, säubern die Steine regelmäßig und pflegen den Kontakt zu den Nachkommen der Opfer. So bewahren sie das Andenken und fördern das lokale Geschichtsbewusstsein.

Diese Gedenksteine zeigen, wie wir im Alltag innehalten und uns erinnern können, dass Straßen und Gebäude Spuren der Vergangenheit tragen. Mit ihrer einfachen, doch tiefgreifenden Symbolik geben die Stolpersteine den Opfern ihre Namen und Lebensgeschichten zurück, die hier in der Gegenwart verankert bleiben.

Gehen wir nun weiter zur letzten Station unseres Spaziergangs – zum Hindemithplatz.

261. Kiezspaziergang Hindemithplatz

10. Station Hindemithplatz

Der Hindemithplatz, benannt nach dem Komponisten Paul Hindemith. Paul Hindemith war ab 1927 Professor an der Berliner Hochschule für Musik und geriet bald nach der Machtübernahme ins Visier der Nationalsozialisten. 1934 diffamierte NS-Propagandaminister Goebbels seine Oper “Neues vom Tage” öffentlich, worauf Hindemith Auftritts- und Aufführungsverbote erhielt. In der Ausstellung “Entartete Musik” stellten die Nazis Hindemith als „Verfallserscheinungen“ dar. Antisemitische Angriffe auf seine Frau und die feindliche Kulturpolitik in Deutschland entmutigten den Musiker, sodass er schließlich emigrierte und in den USA eine Professur fand.

Hindemith blieb ein Symbol für die Kraft der Kunst und ihren Widerstand: 1933 spielte er im Untersuchungsgefängnis Moabit auf der Bratsche für politische Häftlinge. Heute gilt Hindemith als international geschätzter Komponist, und sein Name steht in Berlin für das lebendige Erinnern an kulturelle Widerstandskraft.

Den Platz schmückt ein besonderes Denkmal: der St. Georg Brunnen, 1980 hier aufgestellt. Ursprünglich 1904 am Potsdamer Platz erbaut, wurde er im Krieg schwer beschädigt und kehrte Jahrzehnte später zurück. Der Brunnen, der den Drachentöter St. Georg zeigt, erinnert daran, dass auch die Kunst stets gegen zerstörerische Kräfte kämpft. Das gilt für damals genau wie heute.

Ich danke Ihnen ganz herzlich für Ihre Teilnahme!