Stolpersteine Marburger Straße 3

Hauseingang Marburger Str. 3, 03.10.2012

Hauseingang Marburger Str. 3, 03.10.2012

Die Stolpersteine für Hermann Frank, Lutz, Otto und Hertha Lefébre wurden von der MIV Marburger Straße Verwaltung GmbH gespendet und am 19.06.2012 verlegt.

Die Stolpersteine für Henriette Knopf, Mathilde Lilly Bielschowsky und Rosalie Simon wurden am 12.11.2013 verlegt.

Das Haus Marburger Straße 3 gehörte damals Else Mühsam und ihrer Tochter Hildegard Oppenheim, geb. Mühsam. In den Jahren seit der Machtübernahme der Nazis 1933 – bei den Wahlen vom 12. März 1933 erhielt Adolf Hitlers NSDAP in Charlottenburg 43,3 Prozent der Stimmen – hatten viele langjährige Bewohner, unter ihnen der Kommerzienrat Simon und der Kaufmann Löwenthal, die seit Anfang der 1920er Jahre hier wohnten, das Haus verlassen. Löwenthal war innerhalb Berlins umgezogen, Simon ist in den Berliner Adressbüchern nicht mehr vermerkt. Stattdessen taucht der Name auf der Liste der Personen auf, deren Haushalte während der Nazizeit zur Versteigerung standen. In den Jahren nach 1934 wurden viele der langjährigen Bewohner durch den Nationalsozialismus nahestehende Unternehmen und Verbände ersetzt.

Hildegard Oppenheim, deren 1922 gestorbener Vater Paul Mühsam Jude gewesen war, galt nach der nationalsozialistischen Rassegesetzgebung also als „Halbjüdin“. 1928 heiratete sie den 1897 geborenen Juristen Alexander Oppenheim. Diese Ehe wurde 1934 geschieden. Nach einer weiteren Ehe mit dem ebenfalls jüdischen Fabrikanten Moritz Ladewig, die bis 1939 hielt, heiratete sie den dänischen Geschäftsmann Erik Schmidt. Höchstwahrscheinlich ist Hildegard Schmidt durch diese Verbindung der Verfolgung durch die Nazis entgangen, weil sie die dänische Staatsbürgerschaft nachweisen konnte. Anzunehmen ist, dass die Immobilie Marburger Straße 3 im Besitz der ursprünglichen Eigentümer blieb, weil Else Mühsam keine Jüdin war und ihre Tochter durch die dänische Staatsbürgerschaft geschützt war. 1958 trennte sich Hildegard auch von ihrem dritten Mann und heiratete ihren Rechtsanwalt Ernst Dahlmann, aber später ließen auch sie sich scheiden.

Text: Irja Wendisch/Helmut Lölhöffel. Einige Passage sind einem Buch entnommen, das die Geschichte des Hauses und die Schicksale seiner Eigentümerinnen und Bewohner/innen anschaulich schildert.
Irja Wendisch: Chronik Marburger Straße 3 1897-2010 (Hrsg. MIV Marburger Straße 3 Verwaltungs GmbH, Berlin 2012) 92 Seiten mit zahlreichen Bildern und Dokumenten entnommen.

Stolperstein Otto Lefébre, 03.10.2012

Stolperstein Otto Lefébre, 03.10.2012

HIER WOHNTE
OTTO LEFÉBRE
JG. 1881
DEPORTIERT 12.1.1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

1937 zog der Kaufmann Otto Lefèbre in die Marburger Straße 3 ein. Er besaß eine Fensterreinigungsfirma, die unter dieser Adresse bis 1941 zu finden war. Im darauf folgenden Jahr tauchte sein Name weder hier noch unter einer anderen Berliner Adresse auf. Aus Archivunterlagen geht hervor, dass der am 6. September 1881 im pommerschen Falkenburg geborene Otto Lefèbre und seine am 22. Oktober 1903 in Berlin geborene Ehefrau Hertha Lefèbre, geb. Littmann, sowie deren am 11. März 1935 geborener Sohn Lutz Lefèbre in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert wurden.
Der Zug, der am 12. Januar 1943 vom Bahnhof Grunewald abging, war mit 1190 Menschen vollgestopft. Bis auf 127 als „arbeitsfähig“ selektierte Männer wurden alle Insassen, also auch der siebenjährige Lutz Lefèbre, in den Gaskammern von Birkenau getötet.
Dasselbe Schicksal hätte den langjährigen Mieter des Hauses, Hermann Frank, erwartet, der am 1. Oktober 1942 84-jährig den Freitod wählte.

Stolperstein Hertha Lefébre, 03.10.2012

Stolperstein Hertha Lefébre, 03.10.2012

HIER WOHNTE
HERTHA LEFÉBRE
GEB. LITTMANN
JG 1903
DEPORTIERT 12.1.1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Stolperstein Lutz Lefébre, 03.10.2012

Stolperstein Lutz Lefébre, 03.10.2012

HIER WOHNTE
LUTZ LEFÉBRE
JG. 1935
DEPORTIERT 12.1.1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Stolperstein Hermann Frank, 03.10.2012

Stolperstein Hermann Frank, 03.10.2012

HIER WOHNTE
HERMANN FRANK
JG. 1858
ENTRECHTET/GEDEMÜTIGT
FLUCHT IN DEN TOD
1.10.1942

Stolperstein Rosalie Simon, 2013

Stolperstein Rosalie Simon, 2013

HIER WOHNTE
ROSALIE SIMON
GEB. DEN AREND
JG. 1855
DEPORTIERT 19.4.1943
THERESIENSTADT
ERMORDET 13.12.1943

Rosalie Simon wurde in Rotterdam am 1. November 1855 als Rosalie den Arend geboren. Ihr Vater war Andries Aron den Arend, die Mutter Hijacinthe, geborene Bles. Am 26. Juni 1877 – ihre Mutter war bereits 1868 gestorben – heiratete Rosalie den deutschen Kaufmann Max Simon in Rotterdam. Max Simon stammte aus Werden/Ruhr (heute ein Stadtteil von Essen), wo er am 10. August 1850 zur Welt gekommen war. Er hatte drei Schwestern und vier Brüder und war das drittjüngste Kind. Sein Vater Herz Simon war Textilkaufmann in Werden, seine Mutter Bella eine geborenen Kaufmann. Max’ ältester Bruder Leopold übernahm das väterliche Geschäft und gründete später eine bedeutende Holzbearbeitungsfirma. Max und seine Brüder Siegmund und Friedrich zogen nach Osnabrück. Max und Friedrich übernahmen das 1869 von ihren älteren Brüdern gegründete Textilunternehmen „Gebrüder Simon“. Nach ihrer Heirat lebte Rosalie auch in Osnabrück. Dort wurde 1878 ihre erste Tochter Henriette geboren, weitere sechs, Ella, Mathilde, Berta, Claire, Trude und Isabella, folgten zwischen 1880 und 1887. Ella starb 1881, im Alter von 17 Monaten.

1888 gründete Max Simon in Berlin eine Niederlassung der Osnabrücker Wäschefabrik in der Breiten Straße 24 und zog ein Jahr später selber mit der ganzen Familie in die Hauptstadt. Die Firma wurde in „Gebrüder F. & M. Simon“ umbenannt und 1900 ins Handelsregister eingetragen, nun mit Sitz in der Spandauer Straße 59/61, als Wäsche- und Schürzenfabrik. Wohnadresse der Familie war zunächst die Klopstockstraße 49. Hier brachte Rosalie 1892 den Sohn Hans zur Welt, 1895 folgte das jüngste Kind, Dorothea. 1897, nach Fertigstellung des Hauses Marburger Straße 3, gehörte Familie Simon dort zu den ersten Mietern. Die Firma wechselte 1907 von der Spandauer Straße in die Rungestraße 25-27.

Max Simon war ein erfolgreicher Geschäftsmann. Er war auch Handelsrichter. 1908 wurde er zum Kommerzienrat ernannt, später zusätzlich zum Handelsgerichtsrat. Nachdem sein Bruder Friedrich 1902 in Osnabrück gestorben war, führte zunächst Max die Niederlassung alleine, mit Einverständnis von Friedrichs Erben. 1911 wurde dann die Berliner Firma zur alleinigen Niederlassung und Friedrichs Sohn Walter, der auch nach Berlin gezogen war, als Gesellschafter eingetragen. Sechs Jahre später trat auch der Sohn von Max und Rosalie Simon, Hans, in die väterliche Firma ein. 1932 schied Max, inzwischen 82-jährig, aus der Gesellschaft aus und überließ das Unternehmen seinem Sohn Hans und dem Neffen Walter, der 1932 mit seiner Familie nach London emigrierte.

Am 2. Januar 1934 starb Max Simon an Lungenkrebs. Er wurde in Weißensee beigesetzt. Da die Kinder längst eigene Familien gegründet hatten – außer Gertrud, die 1926 gestorben war – zog Rosalie in eine kleinere Wohnung, zunächst in der Hardenbergstraße 13, dann, um 1938, in die Dörnbergstraße 6. Unter dem Druck der NS-Behörden war sie gezwungen, ihren reichhaltigen Hausstand versteigern zu lassen. 1940 zog sie noch einmal um, in die Rankestraße 9, vermutlich wurde sie dazu genötigt, fand aber immerhin eine Wohnung als Hauptmieterin. Hier, aber auch schon in der Dörnbergstraße, lebte ihre ältesten Tochter Henriette bei ihr.

Stolperstein Henriette Knopf, 2013

Stolperstein Henriette Knopf, 2013

HIER WOHNTE
HENRIETTE KNOPF
GEB. SIMON
JG. 1878
DEPORTIERT 5.9.1942
RIGA
ERMORDET 8.9.1942

Henriette Simon, am 22. Dezember 1878 in Osnabrück geboren, hatte den um einige Jahre jüngeren Chemiker Martin Knopf aus Sorau geheiratet. Martin Knopf arbeitete um 1914 am physiologischen Institut der Universität Berlin. Knopfs wohnten in der Bregenzer Straße 16, dort brachte Henriette 1911 ihren Sohn Adolf zur Welt.

Nach dem frühen Tod seines Bruders im I. Weltkrieg ging Martin Knopf mit seiner Familie zurück auf sein elterliches Gut in Schlesien, um es zu bewirtschaften. Wie es dann dazu kam, dass er im Mai 1937 im KZ Dachau inhaftiert wurde, ist noch ungeklärt. Im September 1938 wurde er wieder entlassen, ihm und seinem Sohn gelang anschließend die Emigration in die USA, wo Adolf sich in Henry umbenannte. Henriette blieb jedoch in Deutschland, wahrscheinlich zog sie zu diesem Zeitpunkt zu ihrer Mutter Rosalie, um sie zu betreuen.

Stolperstein Mathilde Lilly Bielschowsky, 2013

Stolperstein Mathilde Lilly Bielschowsky, 2013

HIER WOHNTE
MATHILDE LILLY
BIELSCHOWSKY
GEB. SIMON
JG. 1881
DEPORTIERT 5.9.1942
RIGA
ERMORDET 8.9.1942

Auch Henriettes Schwester Mathilde, genannt Tilly, war noch in Berlin. Mathilde Simon, in Osnabrück am 30. August 1881 auf die Welt gekommen, heiratete den 1868 geborenen Rechtsanwalt und späteren Justizrat Richard Bielschowsky. Das Ehepaar wohnte in der Rankestraße 55, die Anwaltskanzlei war in der Alexanderstraße. In der Rankestraße brachte Tilly 1907 ihren Sohn Ulrich zur Welt. 1911 zog die Familie in die Knesebeckstraße 43/44. Dort blieb Tilly auch noch nach dem Tod ihres Mannes 1920 wohnen – bis mindesten 1931. Ab dann ist sie nicht mehr im Adressbuch aufgeführt. Sohn Ulrich studierte wie der Vater Jura, und zwar in Genf, Bonn und Berlin, wo er 1929 sein erstes Staatsexamen bestand. Nach 1933 als Referendar entlassen, gelang es ihm noch Anfang 1934 in Bonn zu promovieren. Gleich darauf, im Februar dieses Jahres, wandert er in die USA aus. Tilly blieb in Berlin, wohnte nach 1940 wie ihre Schwester Henriette bei der Mutter in der Rankestraße 9. Die drei Frauen waren mit den mittlerweile sehr erschwerten Lebensbedingungen für Juden konfrontiert. Juden konnten nicht mehr frei über ihr Vermögen verfügen, sie mussten alle Wertgegenstände abliefern, Rundfunkgeräte wurden beschlagnahmt, Telefonanschlüsse gekündigt. Sie durften keine kulturellen Einrichtungen, auch keine Gasthäuser besuchen. Zu bestimmten Zeiten durften sie gar nicht mehr auf die Straße, durften nur von 4 bis 5 Uhr nachmittags einkaufen, Lebensmittelzuteilungen waren beschränkt, auch die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Hinzu kam die Stigmatisierung und Demütigung durch das Tragen des Judensterns.

Im August 1942 musste Rosalie Simon erleben, wie ihre beiden Töchter von der Gestapo abgeholt wurden. Henriette Knopf und Mathilde Bielschowsky kamen in ein Sammellager, und wurden am 5. September 1942 vom Güterbahnhof Moabit aus mit weiteren 794 Berliner Juden nach Riga deportiert. Dort am 8. September angekommen, wurden alle, bis auf einige wegen ihrer handwerklichen Berufe ausgesuchten Männer, auf Ankunft erschossen.

Die 87-jährige Rosalie Simon blieb zunächst allein zurück. Im April des nächsten Jahres wurde aber auch sie abgeholt und am 19. April 1943 mit anderen 99 Menschen in geschlossenen Waggons nach Theresienstadt verschleppt. In diesem sogenannten „Altersghetto“ herrschten dermaßen katastrophale und menschenunwürdige Bedingungen, dass nur wenige sie längere Zeit aushielten. Von den 100 am 19. April 1943 Deportierten überlebten lediglich 16. Rosalie Simon war nicht unter ihnen, am 13. Dezember 1943 erlag auch sie den erbärmlichen Lebensumständen.

Auch Rosalies jüngste Tochter Dorothea wurde von den Nationalsozialisten ermordet. Sie hatte den Chemiker Bernhard Landau geheiratet und 1919 einen Sohn, Thomas, zur Welt gebracht, sich jedoch später scheiden lassen. Sie lebte zuletzt in Paris, wurde aber nach Aussage ihres Sohnes nach Auschwitz deportiert und dort im Dezember 1944 ermordet. Die anderen Kinder Rosalies konnten rechtzeitig in die Schweiz, nach Chile oder in die USA emigrieren. Mathildes Sohn Ulrich Bielschowsky nannte sich in den USA in Ulrich Biel um. Er kehrte 1945 nach Deutschland zurück und machte sich als Politiker einen Namen, u.a. als Berliner Landtagsabgeordneter für die CDU.

Das Haus, in dem Rosalie Simon und Henriette Knopf in Berlin zuletzt freiwillig wohnten, existiert nicht mehr. Die Dörnbergstraße wurde im Zuge des Stadtumbaus 1980 ausgelöscht – wo einst das Wohnhaus stand, ist heute eine Grünfläche. Deshalb entschlossen sich die Nachkommen, die Stolpersteine am letzten gemeinsamen Wohnsitz der Urgroßmutter zu verlegen.

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Statistik des Holocaust, Deportationslisten; Berliner Adressbücher; Gottwaldt/Schulle, Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-1945, Wiesbaden 2005; Yad Vashem, Zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer; Informationen von Marc Mülling, Essen.