HIER WOHNTE
HEDWIG LEVITON
GEB. WASSERZUG
JG. 1877
DEPORTIERT 1.11.1941
LODZ<
ERMORDET 9.5.1942
KULMHOF
Hedwig Leviton geb. Wasserzug wurde am 25. November 1877 in Hohensalza (Inowrazlaw) geboren. In der Kleinstadt im Nordosten der Provinz Posen (Poznan) lebten in ihrem Geburtsjahr mehr als 1600 jüdische Menschen. Ihre Eltern waren sehr wahrscheinlich der Kaufmann Theophil Wasserzug (1853 – 1932) und seine Ehefrau Ernestine geb. Lewenstein (1858 – 1915). Wann und wo beide geheiratet haben, konnte nicht ermittelt werden. Theophil Wasserzug war mit dem Nachnamen Cohn als Sohn von Moritz Cohn und dessen Ehefrau Ernestine geb. Meyer in Exin, Kreis Schubin in Polen, geboren worden. Etwa 1882 müssen die Cohns nach Berlin gezogen sein.
Im Adressbuch für 1883 erscheint Theophil Cohn erstmalig als Galanterie- und Bijouteriewarenhändler in der Stettiner Straße 50a. Einige Jahre später nahm Theophil dann den Nachnamen Wasserzug an, was ihm der Königliche Polizei-Präsident zu Berlin am 20. September 1896 per Attest gestattete. Er ließ daraufhin auch die
Nachnamen seiner bis dahin geborenen Kinder Flora (1882 – 1926),Willi (1884 – 1930) und Max (1889 – 1917) entsprechend ändern. Vermutlich haben auch Hedwig und ihre Schwester Martha in diesem Zusammenhang den Namen Wasserzug erhalten. Beider Geburtsurkunden konnten jedoch leider bisher nicht gefunden werden.
Im Adressbuch von Berlin für 1894 erscheint Theophil letztmalig mit dem Nachnamen Cohn als Schuhwarenhändler in der Landsbergerstraße 41, ab 1895 wird er dann als Theophil Wasserzug geführt, als Schuhwaren-Agent zunächst in der Landsbergerstraße 84.
Theophil hatte insgesamt 3 Brüder und 2 Schwestern. Der Bruder Max Meyer Wasserzug (1856 – 1901) – also einer von Hedwigs Onkeln – erlangte eine besondere Bedeutung für das Brauereiwesen in Berlin. Wie der Berliner Börsen-Zeitung vom 10. März 1897 zu entnehmen ist, hat Max Meyer Wasserzug zum 1. März 1897 die Breslauer Weizen-Bier Brauerei von Ernst Engelhardt in der Berliner Chausseestraße gekauft. Nach Wasserzugs sehr frühem Tod im Jahr 1901 hat seine Witwe Martha, geborene Ludnofski (1866 – 1922), die Brauerei an Ignatz Nacher verkauft, der daraus die bedeutende Engelhardt-Brauerei machte, die schließlich 1983 von der Schultheiss-Brauerei übernommen und dann 1998 endgültig geschlossen wurde.
Hedwig Wasserzug heiratete im Oktober 1898 in London-Whitechapel den Kaufmann Martin Leviton. Am 9. April 1900 wurde in Berlin die gemeinsame Tochter Sadie Leviton geboren. Die Geburt wurde am 12. April 1900 in einer entsprechenden Notiz in der Berliner Börsen-Zeitung gemeldet. Sadie Leviton wurde bei Theophil Wasserzug in dessen Berliner Wohnung in der Landsbergerstraße 89 geboren.
Martin Leviton und seine Frau Hedwig lebten damals in Johannisburg, wo Martin Leviton am 4. Juni 1904 verstarb. Das ergibt sich aus einer Todesanzeige, die Hedwig Leviton am 8. Juli 1904 im Berliner Tageblatt erscheinen ließ. In dieser Todesanzeige sind auch Theophil Wasserzug und seine Frau als Schwiegereltern aufgeführt. Hieraus kann gefolgert werden, dass sie die Eltern von Hedwig Leviton waren.
Wann Hedwig wieder nach Berlin zurückgekehrt ist und wo sie sich zwischenzeitlich aufgehalten hat, konnte leider nicht konkret ermittelt werden. Dem von Klaus Völker 1999 über Sadie Leviton
veröffentlichten Buch „Ich verreise auf einige Zeit“: Sadie Leviton – Schauspielerin, Emigrantin, Freundin von Helene Weigel und Bertolt Brecht kann u.a. entnommen werden, dass Sadie einige Jahre in Wien das Mädchenrealgymnasium der Frau Dr. Eugenie Schwarzwald besuchte, wo auch die gleichaltrige Helene Weigel damals Schülerin war.
Nach dem Schulabschluss nahm Sadie Schauspielunterricht in Frankfurt/Main und in Berlin. Es ist zu vermuten, dass die Mutter Hedwig Leviton zumindest mit in Wien gelebt hat.
Am 25. September 1915 ist die Ehefrau von Theophil Wasserzug Ernestine, geborene Lewenstein, im Alter von 67 Jahren in Berlin verstorben. Einige Jahre später heiratete Sadie Leviton am 6. November 1922 in Berlin den Polizeikommissar Engelbert Ludwig August Rech. Diese Ehe wurde am 28. April1928 wieder geschieden. Am 9. Februar 1932 heiratete sie dann, wiederum in Berlin, den Arzt Dr. Friedrich Otto Rudolf Josef Müllereisert, einen Jugendfreund Bertolt Brechts. Diese Ehe wurde bereits am 9. November 1933 gegen den Willen von Otto Müllereisert wieder geschieden, da Sadie nicht auf den Schutz ihres nichtjüdischen Mannes angewiesen sein wollte und sie außerdem seine Karriere nicht durch die Ehe mit einer Jüdin gefährden wollte.
Am 13. Mai 1933 ist dann Theophil Wasserzug im Alter von 80 Jahren in Berlin im Sankt Hedwig-Krankenhaus gestorben.
Hedwig Leviton findet man ab 1934 im Berliner Adressbuch, und zwar zunächst in der Wielandstraße 13 in Charlottenburg. Ab 1938 ist sie dann in der nicht weit entfernten Niebuhrstraße 65 aufgeführt. Bereits um diese Zeit hatte sich ihre Tochter Sadie entschlossen, Berlin zu verlassen. Sie lebte zunächst einige Zeit in Dänemark, Italien, Spanien und ab 1937 in Argentinien. Dort lernte sie den Film- und Schlagerkomponisten Rudolfo Sachs kennen, die große Liebe ihres Lebens. Allerdings heirateten sie nie. Erst 1953 ist Sadie Leviton zurück nach Berlin gekommen, wo sie gemäß einer Notiz auf ihrer Geburtsurkunde 1966 verstarb.
Sadie hatte immer wieder versucht, ihre Mutter ebenfalls zum Verlassen Deutschlands zu bewegen. Diese Versuche blieben jedoch vergebens und Hedwig Leviton wurde 1941 zunächst in die Sammelstelle Levetzowstraße 7-8 und dann am 1. November 1941 nach Litzmannstadt (Łódź) und von dort am 9. Mai 1942 nach Kulmhof (Chelmno) deportiert und ermordet. In den Deportationslisten ist sie im 4. Transport mit Abfahrt in Berlin am 1. November 1941 aufgeführt, allerdings fälschlicherweise mit dem Nachnamen Levisohn.
Aus Hedwig Levitons weit verzweigter Verwandtschaft sind noch etliche weitere Angehörige in verschiedene Konzentrationslager verschleppt und dort ermordet worden. Gefunden wurden Jenny Katz, geborene Wasserzug, (1890 – 1943), die Tochter von Max Meyer Wasserzug, und ihr Ehemann Martin Katz (1882 – 1938); der Onkel Siegmund Cohn (1877 – 1941); die Tante Rosa Batavia, geborene Cohn, (1877 – 1943); der Cousin Martin Wasserzug (1896 – 1942); die Cousine Frieda Deutsch, geborene Wasserzug, (1895 – 1945) und ihr Ehemann Bernhard Adolf Deutsch (1886 – 1940); der Neffe Heinz Alfred Gundermann (1923 – 1942) sowie der Neffe Erwin Heymann (1916 -1942).
Recherche und Text: Hannsjörg Schmieder
Quellen:
Landesarchiv Berlin
Historische Berliner Adressbücher
https://www.statistik-des-holocaust.de/OT4-20.jpg
Klaus Völker: „Ich verreise auf einige Zeit“
https://de.wikipedia.org/wiki/Helene_Weigel
www.ancestry.de
https://www.anstageslicht.de/themen/history/ignatznacher/dieerfindungderpfandflasche