Ein Ruf aus der Ferne. Die Dauerausstellung über die Familie Prager aus Berlin-Prenzlauer Berg

Eine kleine Dauerausstellung im Museum Pankow erzählt die Familiengeschichte des in Australien lebenden „aktuell“-Lesers Lothar Prager – über dessen Verwurzelung in Prenzlauer Berg, das erzwungene Exil, die Ermordung seiner Angehörigen sowie das Überleben und Zurückkommen nach Berlin. Die Ausstellung baut auf einem langjährigen Kontakt zwischen dem Museum und Lothar Prager, der 1938 in Prenzlauer Berg geboren wurde, auf.

Lothar Prager mit der Ausstellungskuratorin Rikke Gram bei der Eröffnung der Ausstellung am 6. Juli 2023.

Lothar Prager mit der Ausstellungskuratorin Rikke Gram bei der Eröffnung der Ausstellung am 6. Juli 2023.

Vitrine mit Illustrationen und Texten über die Familie Prager.

Die Vitrine als Entwurf mit den Illustrationen und Texten über die Familie Prager.

So rufen wir Eltern aus der Ferne“: Das schrieben Rosa und Julius Prager im Februar 1940 in Berlin in einem Geburtstagsgedicht an ihren Sohn Georg und die Schwiegertochter Margarete in Shanghai. Der Ruf gen China war voller Sehnsucht. Ein Verlangen nach der gemeinsamen Familienfeier an diesem Festtag und nach dem kleinen Enkelsohn, dem einjährigen Lothar. Die Familie Prager war in Prenzlauer Berg tief verwurzelt. Beide sind in den Straßen um den Wasserturm aufgewachsen. Georg war gelernter Buchdrucker und hatte eine Druckerei im Schreibwarenladen seines Vaters in der Straßburger Straße 34. Margarete und ihre Schwiegermutter arbeiteten im Geschäft mit, dazu wohnten sie alle auch im Haus.

Die jungen Pragers mussten mit Lothar Berlin im Januar 1939 verlassen. Das Exil war die einzige Möglichkeit für die Familie gewesen, nachdem Georg in der Reichspogromnacht im November 1938 inhaftiert wurde. Er erfuhr am eigenen Leib, dass er als Jude in Deutschland unerwünscht war, als er sechs Wochen im Konzentrationslager Sachsenhausen inhaftiert war. In dieser Zeit löste Margarete die Wohnung und das Geschäft in Prenzlauer Berg auf und ergatterte Schiffskarten nach Shanghai. Die chinesische Hafenstadt war kein Traumort. Ende 1938 war es aber fast unmöglich für Geflüchtete aus Deutschland, anderswo Visa zu bekommen. Einige Stadtteile von Shanghai galten als internationales Gebiet, sodass man sich dort ohne Visum aufhalten konnte. Einzig brauchte man eine Fahrgelegenheit dorthin.

Illustration, die zwei Frauen und einen Mann beim Lesen eines Briefes zeigt

Recha Romm, die Mutter von Margarete, Rosa und Julius leben sehr nah beieinander und tauschen sich aus, wenn Neuigkeiten aus Shanghai ankommen. Zwischen 1939 und 1941 werden über 100 Briefe von der Familie in Prenzlauer Berg nach Shanghai geschickt. Nur die Briefe, die in Shanghai ankommen, sind bis heute erhalten und befinden sich in der Sammlung des Museums Pankow.

Somit bestieg die kleine Familie Prager in der italienischen Hafenstadt Genua im Januar 1939 den Passagierdampfer Conte Biancamano gemeinsam mit eintausend anderen – meist deutschen – Jüdinnen und Juden. Angekommen in Shanghai war das Leben nicht einfach, zumal erschwert durch das ungewohnte Klima, durch Armut und Fehlernährung. Trotzdem waren die jüdischen Geflüchteten hier in relativer Sicherheit, anders als jene, die in Europa zurückblieben. Mehr als 18.000 meist deutsche und österreichische Jüdinnen und Juden flohen nach Shanghai; die meisten überlebten den Zweiten Weltkrieg dort. Die Familie Prager musste ihr altes Leben hinter sich lassen und finanzierte sich durch Gelegenheitsjobs: Margarete verkaufte Seife, Georg Zigaretten bei Fußballspielen. Das Hab und Gut, das sie aus Berlin mitgebracht hatten, wurde auf der Straße zum Verkauf angeboten. Die Verbindung zu den Eltern in Prenzlauer Berg wurde durch regelmäßigen Briefaustausch aufrechterhalten. Die Briefe galten auf beiden Seiten als Lebenszeichen und so verfolgten die Großeltern das Aufwachsen ihres Enkels „Lotharchen“.

Das Leben der Familie in Prenzlauer Berg hat Lothar nie miterlebt – die Großeltern hat er nie kennengelernt. Ab September 1941 kommen in Shanghai keine Briefe mehr aus Prenzlauer Berg an. Nach dem Krieg erfahren Margarete und Georg, dass ihre Eltern in das Ghetto Litzmannstadt deportiert und im Mai 1942 im Vernichtungslager Kulmhof ermordet wurden.
Lothar Prager erhält 1998 im Rahmen des Besucherprogramms des Berliner Senats für NS-Verfolgte eine Einladung in seine Geburtsstadt. Er hatte zunächst große Zweifel, ob er hinfahren sollte. Würde er den Menschen dort misstrauen, da sie am Mord seiner Großeltern beteiligt gewesen sein könnten? Er beschließt, die Reise von Melbourne aus – wo sich die Familie nach Jahren in Shanghai niedergelassen hat – anzutreten, und sieht zum ersten Mal seit 1939 die Straßen von Prenzlauer Berg, die er aus Erzählungen so gut kennt. Seitdem besucht Lothar Deutschland noch mehrere Male mit seiner Frau, seinen Kindern und Enkelkindern.
Das Museum Pankow befindet sich heute einen Steinwurf entfernt von der Straßburger Straße, und auf Grund dieser räumlichen Nähe kam Lothar mit dem Museum in Kontakt. Über mehrere Jahre entwickelt sich die Idee, eine kleine Dauerausstellung zu seiner Familiengeschichte zu realisieren und zu zeigen, dass die Gegenwart des Bezirks von der Erinnerung, dem Leid des Verlustes und der Wiederannäherung vieler ehemaliger Bewohnerinnen und Bewohner und nachfolgender Generationen geprägt ist. Die Pragers stehen stellvertretend für viele jüdische Familien, die ihre Heimat hinter sich lassen mussten oder es nicht ins Exil schafften.

Die Ausstellung „Ein Ruf aus der Ferne. Die Familie Prager aus Berlin-Prenzlauer Berg“ wurde vom Kollektiv »kaboom« in Zusammenarbeit mit „markos – esther design studio“ gestaltet. Sie ist zu sehen im Museum Pankow – Kultur-und Bildungszentrum Sebastian Haffner, Prenzlauer Allee 227/228, 10405 Berlin. Weitere Informationen zur Ausstellung „Ein Ruf aus der Ferne. Die Familie Prager aus Berlin-Prenzlauer Berg“