Was sollten wir groß erzählen?

60 Jahre nach Kriegsende – Rohnstock Erzähl-Salon für Emigranten im Hotel Adlon Kempinski

_von Susanne Plath,
Rohnstock Biografien_

„Man hat in unseren Kreisen nie von seiner eigenen Geschichte erzählt. Wir alle haben Angehörige und nahe Freunde verloren. Wir sind mit nichts in einem fremden Land angekommen und mussten sofort arbeiten, um zu überleben. Was sollten wir groß erzählen? Jeder von uns hatte ein mehr oder weniger ähnliches Schicksal.“ Mit „wir“ meint Werner Finkelstein deutsche Juden, die im Zweiten Weltkrieg aus ihrer Heimat flüchten mussten. Heute sitzt er mit anderen Zurückgekehrten im Lindenzimmer des Berliner Hotels Adlon und hat nun doch einen Raum für seine Geschichte gefunden.

Heinz Kallmann (links) und Werner Finkelstein

Heinz Kallmann (links) und Werner Finkelstein

Am 24. September startete Rohnstock Biografien die Salon-Reihe „60 Jahre nach Kriegsende – Emigranten erzählen“. Hier treffen sich Menschen, die aus dem faschistischen Deutschland vertrieben wurden – als Juden oder Nazi-Gegner. Das erste Thema lautet „Meine letzten Tage in Deutschland“. Die Geschichten handeln von dem lange abwegigen Gedanken an eine Flucht („Wir waren gute Deutsche. Was sollten wir flüchten?“), von wachsenden Schikanen, gelben Schulbänken, grölender SA und ignoranten Nachbarn. „ ‚So etwas kann doch in Deutschland nicht passieren‘ sagten sie und glaubten uns nicht“, erinnert sich Dr. Volkmar Zühlsdorff.

Es sind Geschichten über Abschiede und abrupte Einschnitte. Heinz Kallmann entkam im Kindertransport aus Berlin und musste seine Mutter am Bahnhof zurücklassen. Sara Bialas wurde bei einer Razzia von der Wehrmacht verhaftet. „Ich war vorher noch nie mit der Eisenbahn gefahren. Der Weg ins Konzentrationslager war meine erste Fahrt“, sagt sie leise.

Von links: Heinz Kallmann, Werner Finkelstein, Sara Bialas, Andrée Leusink

Von links: Heinz Kallmann, Werner Finkelstein, Sara Bialas, Andrée Leusink

Während die Erzähler reden, ist es ganz still im Raum. Sie verstehen einander. Die Zuhörer sind tief berührt. Zugleich sind die offenen Geschichten für sie ein mahnendes Geschenk. „Wer nicht dabei war, wird das nie ganz verstehen können“, sagt Dr. Bert Thinius, Leiter der Rohnstock-Erzähl-Akademie und Moderator dieses Nachmittags. „Doch wir möchten verstehen – und wir glauben, die beste Möglichkeit dafür bieten autobiografische Geschichten.“ Das Berliner Unternehmen Rohnstock Biografien hat sich dem Bewahren von Lebensgeschichten verschrieben und bisher über 120 von ihnen zu „Büchern des Lebens“ gemacht. Erzähl-Salons sind eine ihrer vielfältigen Initiativen zur Förderung von Erinnerungs- und Erzählkultur. Die Geschichten werden aufgezeichnet, ein Hörbuch der ersten Folge ist bereits geplant. Vielleicht wird es am Ende der Reihe auch eine Anthologie geben, damit diese Erfahrungen von vielen nachgelesen werden können. „Auch nach 60 Jahren ist längst nicht alles gesagt. Irgendwann werden die Zeugen nicht mehr da sein, niemand, der sich erinnert, wie es war. Dann brauchen wir die Zeugnisse“, sagt Thinius.

Von links: Werner Finkelstein, Sara Bialas, Andrée Leusink, Werner Bab

Von links: Werner Finkelstein, Sara Bialas, Andrée Leusink, Werner Bab

Für Andrée Leusink sind die Geschichten das Einzige, was ihr von ihrer Familie geblieben ist: „Es ist nichts da. Kein Löffel, kein Foto, nichts.“ Und auch für Werner Finkelstein ist es wichtig, jetzt zu sprechen: „Als wir im Ausland nach 1945 die ersten Berichte Überlebender hörten, schämten wir uns, gelebt zu haben, während man unsere Familien ermordete. Das war noch ein Grund zu schweigen. Heute haben wir die Pflicht, von ihnen zu erzählen.“

Als er mit seiner Erzählung endet, ist sein Sitznachbar Heinz Kallmann erstaunt: “Wir kennen uns schon so lange, besuchen die gleiche Synagoge. Aber wir haben nie darüber gesprochen, dass wir fast die gleiche Geschichte haben.” Am 26. November werden sie weitererzählen – beim nächsten Salon zum Thema “Unterwegs. Tage oder Wochen mit (un)bestimmtem Ziel”. Weitere Erzähler und Zuhörer sind herzlich willkommen.

Die nächsten Salons im Adlon

28. Januar 2006 Meine ersten Tage in der Fremde Wurden Sie erwartet? Wie fanden Sie eine Bleibe?
25. März 2006 Ein Mensch, den ich nicht vergessen kann Jemand, der eine besondere Rolle in Ihrem Leben spielte, der Ihnen half oder Sie prägte.
27. Mai 2006 … dass nicht nur der Name bleibt: Ein Mensch, den ihr nicht vergessen sollt! Im Museum des Berliner Holocaust-Denkmals sind die Namen aller bekannten jüdischen Holocaust-Opfer zu lesen. Eine Geschichte macht den Menschen nicht lebendig, doch sie gibt dem Namen ein Gesicht


Anmeldung und Informationen:
Rohnstock Biografien
Schönhauser Allee 12
10119 Berlin
Tel.: 49 30 40504330
E-Mail: info@rohnstock-biografien.de
www.rohnstock-biografien.com